Mi 24. Mai 2017
20:30

Tenors Of Kalma (FIN)

Jimi Tenor: vocals, saxophone, keyboards, electronics
Kalle Kalima: guitar, electronics
Joonas Riippa: drums

Am 27.03.2015 veröffentlichte Yellowbird/Enja ein außergewöhnliches Projekt von drei außergewöhnlichen Musikern: für das Album Electric Willow fanden Jimi Tenor, Kalle Kalima und Joonas Riippa unter dem Namen Tenors Of Kalma zusammen.

„Am Anfang stand die Idee, eine Mischung aus der Musik von Kraftwerk und des Sun Ra Arkestra zu kreieren“, grinst Kalle Kalima und Jimi Tenor präzisiert: „Ich wollte irgendwas in der Art von Free Jazz machen, Kalle etwas mit Sequenzern und Elektronik.“ Im ersten Moment wirkt das wie ein Rollentausch. Verbindet man Jimi Tenor doch mit sehr unterschiedlichen, aber stets eher Richtung Pop und Funk orientierten Projekten, während Kalle Kalima bislang vor allem als querdenkender Jazzgitarrist auffiel. Doch Tenor ist nicht nur Konzeptkünstler, versierter Keyboarder, Sänger und Afrobeat-Liebhaber, sondern eben auch Saxophonist und Flötist. „Vermutlich sind alle Tenorsaxophonisten zumindest insgeheim von Coltrane inspiriert“, spekuliert Jimi Tenor, „zudem liebe ich den Stil und die Kompositionen von Pharoah Sanders. Darüber hinaus gehört Sun Ra seit den frühen Neunzigern zu meinen Leidenschaften. Letztlich denke ich aber, dass James White und Fela Kuti den stärksten Einfluss auf mein Saxophonspiel hatten. Ich bin eben mehr an vibe als an Technik interessiert.”

Der ursprünglich angepeilte Gegenpol zu freien Improvisationen, also die klare Klangarchitektur von Kraftwerk, verschob sich während der Studiosessions Richtung Kraut- und Psychedelic Rock. „Wir haben sehr intuitiv gearbeitet und viele Teile der Stücke live aufgenommen“, erzählt Kalle Kalima. „Manchmal spielten wir einfach los und ich habe die Bandmaschine angestellt“, bestätigt Jimi Tenor, „Kalles Ansatz ist sicher etwas technischer und intellektueller als meiner, dadurch entstand eine schöne Spannung.“ Elektronische Passagen wirken nun eher verspielt, bisweilen scheint der Geist von Holger Czukays Can durch analoge Synthesizermotive zu wehen. Auf eigenwillige Art pendeln Tenor und Kalima zwischen instrumentalen Stücken und Songs, verarbeiten dabei auch zeitgemäße Einflüsse. Gewitzt abstrahieren sie imaginäre DJ-Scratches auf ihren Keyboards und Gitarren, entführen vermeintlich vertraute Sounds auf unbekanntes Terrain. Entscheidend für die Vielfalt und Atmosphäre des Albums war, „dass wir die Musik in Jimis Heimstudio in Helsinki ohne Zeitdruck entwickeln konnten“, sagt Kalima.

Seit rund zehn Jahren spielen die beiden Finnen schon zusammen. Damals war Kalle Kalima Gründungsmitglied von Tenors Projekt Kabu Kabu, das darüber hinaus aus afrikanischen und kubanischen Musikern bestand, die in Berlin ansässig waren. Natürlich beteiligte sich Kalima 2008/09 auch an Tenors Produktion mit Tony Allen, dem ehemaligen Schlagzeuger Fela Kutis und offiziellem Co-Erfinder des Afrobeat. Nachdem 2012 das bislang letzte Album von Kabu Kabu erschien, ging Jimi Tenor stilistisch andere Wege. Genauer gesagt schlug er einen Bogen in die Frühzeit seiner Karriere. Erste Erfolge feierte Tenor Mitte der Neunziger, damals beim renommierten Label Warp, als Techno- und Elektronikmusiker. Fast zwei Dekaden später veröffentlichte er mit Ehefrau Nicole Willis 2013 und ’14 zwei House-Alben unter dem Namen Cola & Jimmu.

Anders als Jimi Tenor, der sich nur temporär in Berlin aufhielt, beschloss Kalle Kalima nach seinem Studium an der Spree zu bleiben. Seitdem spielte er u.a. mit internationalen Jazz-Stars wie Tomasz Stanko, Jason Moran, Jim Black, Anthony Braxton und Marc Ducret, gewann mit seiner Band Klima Kalima den Neuen Deutschen Jazzpreis, nahm zwei Alben mit Daniel Erdmann und John Schröder (Momentum Impakto) sowie drei CDs mit Eric Schaefer und Chris Dahlgren (Johnny La Marama) auf. Nebenbei schrieb der 41-jährige Musiker für Theater, während Tenor für Filme komponierte.

Komplettiert werden die Tenors Of Kalma vom finnischen Schlagzeuger Joonas Riippa, der sich, laut Kalima, „bestens in Jazz und Rock auskennt und improvisieren kann.“ Hierzulande wurde Riippa vor allem durch seine Arbeit mit Verneri Pohjola bekannt.

Die Initiative zum Gemeinschaftsprojekt ging von Kalle Kalima aus und so erstaunt es nicht, dass vier Kompositionen auf Electric Willow von ihm stammen. Ein Stück steuerte Jimi Tenor bei, vier weitere sind Kollektiv-Improvisationen des Trios. „Sakura“ schließlich basiert auf einem japanischen Volkslied. Von diesem Traditional abgesehen, zeichnet Kalima für die (vier) Songtexte verantwortlich. „‘Blind‘ dreht sich um einen Menschen, der in der Großstadt lebt und gerne seine Ruhe hätte“, sagt Kalima, „und auch ‚The Missing Page 1964‘ beschreibt eine Art Zwangslage: ein Mann sucht in einer Bibliothek nach eben dieser bestimmten Seite in einem unbestimmten Buch.“ Im abschließenden Song „The Hymn To The Sun God“ bezieht sich Kalima teilweise auf Poesie, die dem revolutionären Pharao Echnaton zugeschrieben wird.

Wer gerne historischen Referenzen auf der Spur ist, hat bei Tenors Of Kalma eine Menge Spaß. Nicht nur wegen der – dank einigem Vintage-Equipment – eher analogen Gesamtästhetik. Echos der frühen, rauschhaften Pink Floyd lassen sich ebenso ausmachen wie Ideen der Canterbury-Szene oder bewusstseinserweiterte Visionen amerikanischer Prägung. Komplexe rhythmische Strukturen changieren zwischen Afrobeat und King Crimson, in der Ballade „Blind“ leuchtet sogar ein Satzgesang im Stil von Crosby, Stills & Nash auf.

Anders als manche Progrock-Ikonen behalten Tenor und Kalima selbst in frei improvisierten Momenten den Zusammenhang im Blick. Die beiden längsten Stücke dauern siebeneinhalb Minuten und halten jederzeit die Spannung. „Natürlich spielen wir auch mit Klängen, die man schon mal gehört hat“, erklärt Kalle Kalima, „aber wir stellen sie in andere, neue Zusammenhänge.“ Neben Stilwillen beweist das Duo auch viel Humor. „Das Stück ‚Ininää‘ kreist um einen Moskito, der mich immer wieder beißt“, lacht Kalima, „deswegen entwickelt es auch dieses mantra-artige Finale.“

Zirkulierende Passagen wecken zuweilen Assoziationen an Ritualmusik oder erinnern an die hypnotische Energie des Afrobeat. „Für mich sind Tenors Of Kalma, nach meiner Zusammenarbeit mit Jazzanova, seit langem mal wieder eine Gelegenheit, repetitiv zu spielen“, freut sich Kalle Kalima. Das Vergnügen, die Zuhörer zum Tanzen zu bringen, motiviert alle drei Musiker und manifestiert sich in Grooves, in die sogar Reggae-Feeling einfließen kann. Gleichzeitig ist das Trio immer darauf bedacht, mit unvorhersehbaren Wendungen, dynamischen Wechseln und suggestiven Passagen kunstvoll zu überraschen.

Die Frage, wie er mit der ungewohnten Rolle als Co-Chef umgeht, beantwortet Jimi Tenor bemerkenswert gelassen. „I can take it easy. Natürlich muss ich mich ein wenig umstellen, aber wesentlich ist, dass wir zusammen auf der Bühne spielen. Das ist es nämlich, was ich am meisten mag.“ (Uta Bretsch)