Mo 23. August 2021
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Benjamin Moussay – pianistischer Gipfelstürmer

Um Berge, Stummfilmmusik und sehr Privates drehen sich die zwölf Songs, die der französische Pianist Benjamin Moussay für sein ECM-Solodebüt “Promontoire” eingespielt hat.

Nach drei ECM-Aufnahmen mit den Ensembles von Louis Sclavis und einer weiteren als Sideman von Vincent Courtois legt Benjamin Moussay mit “Promontoire” sein erstes eigenes Album bei dem Münchener Label vor. “Promontoire” ist für den 47-jährigen Franzosen zugleich auch das erste Soloklavieralbum seiner Karriere. Den improvisatorischen Einfallsreichtum, den Moussay an der Seite von Sclavis bereits auf den Alben “Sources” (aufgenommen 2011), “Salt And Silk Melodies” (2014) und “Characters On A Wall” (2018) unter Beweis gestellt hatte, kostet er hier noch viel mehr aus. “Promontoire” ist nicht nur eine vortreffliche Ergänzung der ausgezeichneten Reihe von Solo-Klavieralben, die ECM im Laufe von Jahrzehnten hervorgebracht hat. Das Album ist im Grunde auch ein Selbstporträt seines Schöpfers, da es viele Aspekte von Moussays Leben und sein Interesse an allen Bereichen der Kunst anschneidet.

Die Musik von “Promontoire” nahm durch sorgfältige Vorbereitung und spontane Risikobereitschaft Gestalt an. Moussay beschreibt sein Vorgehen als “einen einsamen Tanz mit dem Fluss des inneren Rhythmus”, wobei er den Kompositionsprozess entlang des Weges entfaltet und aufgibt. “Komponierte Vorlagen werden je nach dem Moment unendlich verändert”, erläutert der Pianist. “Wenn ich solo spiele, kenne ich den Ausgangspunkt und das Ziel. Das Mysterium liegt in den Überraschungen während der Reise.” Obwohl es die Solo-Klavieraufnahmen von Thelonious Monk waren, die Benjamin Moussays Phantasie ursprünglich beflügelten und ihm eine Liebe zum Jazz einflößten, die er später auch parallel zu seinen klassischen Studien hegte, hat er sich das Solo-Format erst vor wenigen Jahren selbst zu eigen gemacht. “Ich habe viel mit meinem Trio gearbeitet und als Sideman mit vielen Bands gespielt, aber der Gedanke, ganz allein Musik zu machen, ging mir nie aus dem Kopf. Es schien mir ein ziemlich großer Schritt zu sein, da sich um das Soloklavier so viel Geschichte rankt. Aber schließlich beschloss ich, es einfach zu wagen. Meine ersten Solokonzerte glichen fast schon klassischen Recitals. Ich spielte anfangs sehr viel geschriebenes Material. Aber je öfter ich solo spielte, desto mehr wollte ich mich gehen lassen und improvisieren. Der Kompositionsanteil wurde immer mehr reduziert, oft beschränkte er sich auf die wesentlichen Elemente einer Melodie und einige wenige Akkorde.” Auf “Promontoire” geht er darüber noch hinaus. Denn einige Stücke sind vollkommen improvisiert, obwohl Moussays Instinkt für musikalische Strukturen es dem Hörer nicht leicht macht, zu unterscheiden, was komponiert wurde und was ad hoc entstand. Das Album wirkt wie eine Geschichte, die sich in zwölf Kapiteln, zwölf Reflexionen entfaltet. (...)

Bei verschiedenen Gelegenheiten erhielt Benjamin Moussay Kompositionsaufträge, um neue Musik zu alten Stummfilmen zu schreiben. Drei der Stücke von “Promontoire” verdanken ihren Ursprung solchen Werken. Obwohl ein jedes mehrere Transformationen durchlaufen hat, wurden “Theme For Nana”, “Horses” und “The Fallen” allesamt geschrieben, um Szenen aus Jean Renoirs Filmklassiker “Nana” von 1926 zu untermalen. Der Film basierte auf dem gleichnamigen Roman von Émile Zola. “'Theme For Nana' beschreibt natürlich die Hauptfigur. Ich halte das Stück in gewisser Weise für ein bisschen ‘Sclavistisch’, da jede Melodiekurve eine andere Atmosphäre, Farbe oder Emotion suggeriert.” “Horses” interpretiert die berühmte Rennbahn-Sequenz aus Renoirs Film mit rhythmischen Figuren, die an die elegante Bewegung von galoppierenden Pferden erinnern. Und “The Fallen”, ursprünglich im Roman und Film eine Charakterskizze des Grafen Muffat, der sich durch seine Liebe zu Nana herabziehen lässt, hat hier eine breitere Bedeutung erlangt: “Es steht für all jene, die versuchen, nach oben zu kommen, nur um dann nach unten zu gelangen – ob in den Bergen oder im Leben. Es ist eine Art Blues!” “Villefranque” ist nach der Gemeinde in den Hautes-Pyrénées benannt, in der das Stück geboren wurde. “Improvisation ist oft der Ausgangspunkt für meine Stücke, die ich dann durch die Auswahl und Bearbeitung von Elementen entwickle. Aber in diesem Fall – ich habe mich selbst am Klavier im Haus eines Freundes aufgenommen – war die Musik gleich vollständig. Ich transkribierte die Improvisation und erhielt so das Stück.” “Sotto voce”, so sagt Moussay, offenbart hingegen seine “chopinesk-romantische Seite. Ich mag es, wenn es wirklich leise und einfach gespielt wird. Es ist wie ein kleines Bild von etwas.” Das lebhafte “Chasseur de plumes” ist der Erinnerung an eine junge Katze gewidmet, die es liebte, Vögel zu jagen, während “L’oiseau d’or” sich auf den “Goldenen Vogel” aus den Grimm-Märchen bezieht. Schließlich ist da noch “Théa”, ein musikalisches Porträt von Benjamins kleiner Tochter. “Das ist ebenfalls eine totale Improvisation”, sagt Moussay. “Tatsächlich war es das erste Solostück, das ich in den Studios La Buissonne aufgenommen habe. Ich glaube, dass es etwas von Théas tänzerischer Energie und ihrem Lächeln vermittelt…” (Jazzecho)

Benjamin Moussay: Promontoire
“Ausgeschriebene Vorgaben werden dem jeweiligen Moment gemäß unendlich verändert. Als Solopianist kenne ich den Ausgangspunkt und das Ziel. Das Geheimnis liegt in den Überraschungen der Reise“, erklärt Benjamin Moussay seinen musikalischen Ansatz, in dem Komponiertes und Improvisiertes symbiotisch ineinander übergehen. Die Worte „Reise“ und „Überraschungen“ klingen natürlich immer sehr verlockend in den Ohren des aufgeschlossenen Musik-Fans, und die Erwartungen in das erste Solo-Album des längjährigen Mitstreiters von Louis Sclavis werden auch durchwegs erfüllt.

Denn der 47-jährige Franzose hat zwölf auf angenehme Weise unprätentiöse, introspektive, melodisch und harmonisch leicht ins Ohr gehende Miniaturen erschaffen, die durchaus das Potential haben, einzeln für sich zu stehen, aber zusammen gehört ein in sich sehr stimmig wirkendes musikalisches Konglomerat ergeben. Der im Elsass aufgewachsene und in Paris lebende, klassisch ausgebildete Moussay ist einst zwar über ein Soloalbum von Thelonious Monk zum Jazz gekommen, hier wählt er aber über weite Strecken einen lyrischen Ansatz, der ihn in die Nähe der Spätromantiker, manchmal auch in Richtung Bartók oder eines ironiefreien Satie rückt. Das Titelstück „Promontoire“ ist einem ausgesetzten Felsgipfel über einem kleinen Bergsee in den Vogesen gewidmet, auf dem der begeisterte Alpinist hörbar die Ruhe und den ungestörten Blick in die Ferne genießt. Die impressionistisch hingetupften, düsteren Klänge von „Monte Perdido“ lassen den in den Pyrenäen gelegenen „Verlorenen Berg“ da schon als wagemutigere Herausforderung erscheinen, und das nervöse „Don’t Look Down“ ist wohl dem erhöhten Adrenalinspiegel des in der Steilwand befindlichen Bersteigers geschuldet – „Jetzt nur nicht hinunterschauen!“ Auch der unerwarteter Weise hoffnungsfroh klingende Opener „127“ ist diesem Metier verpflichtet, bezieht er sich doch auf Danny Boyles biographischen Film über den Bergsteiger Aron Ralston, der 127 Stunden mit dem Arm in einer Felsspalte eingeklemmt in einer Wand ausharren musste und sich nur unter höchst dramatischen Umständen befreien konnte. Weitere Stücke sind dem Faible Moussays, alte Stummfilmklassiker mit neuen Tönen zu versehen, zu verdanken – im konkreten Fall ging es um Jean Renoirs Zola-Verfilmung „Nana“. Der in ihrer Gier und Zerrissenheit tragisch-mondänen Frauenfigur ist ein ebenso stimmungsvolles Porträtstück gewidmet wie ihrem prominenten, reichen Opfer, mit dem es ob der unheilvollen Liaison zu einem mit Dissonanzen gewürzten bluesgetränkten Stück gnadenlos bergab geht. Manchmal braucht Benjamin Moussay nicht einmal zwei Minuten, etwa bei „Sotto voce“, um eine perfekt schöne, kleine Klangwelt zu kreieren, in der man sich gerne ohne Ende verlieren möchte. Oder im noch kürzeren „Chasseur de Plumes“, um der lebhaften Verspieltheit einer jungen Katze musikalisch Ausdruck zu verleihen. In ihrer geschickten Reduziertheit, Geschmacksicherheit und sympathischen Unaufdringlichkeit ist „Promontoire“ ein ganz spezielles Meisterwerk, das man gerne auf Dauerrotation stellt. (Peter Füssl)