Di 30. Januar 2024
20:30

Dhalgren 'Got Milk' (D/USA/A)

Chris Dahlgren: lead vocals, a-guitar, viola da gamba, baglama
Arne Braun: e-guitars, vocals
Evi Filippou: vibraphone, percussion, vocals
Sidney Werner: bass, vocals
Tilo Weber: drums, vocals

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Der Lockdown hat vielen Künstlerinnen und Künstlern wie auch den meisten anderen Menschen auf dieser Welt übel mitgespielt. Für einige Wenige war die Zeit des Stillstands jedoch ein Glücksfall, eine willkommene Zäsur im Wirbel anschwellender Hektik. Einer von ihnen ist der in New York, Berlin und Salzburg beheimatete Singer-Songwriter Chris Dahlgren, der mit seiner Band Dhalgren das dritte Album „Got Milk“ an den Start bringt.

Chris Dahlgren ein Singer-Songwriter? Ist das nicht ein Jazz-Bassist, der unter anderem mit Anthony Braxton, Joe Lovano und Herb Ellis oder in seiner Berliner Zeit mit Gebhard Ullmann sowie dem Wahnwitz-Trio Johnny La Marama zusammengespielt hat? Richtig. Chris Dahlgren zählt weltweit zu den renommiertesten Jazz-Bassisten, der alle Facetten zwischen Tradition und Avantgarde beherrscht. Doch das Leben ist einerseits zu reich und andererseits zu kurz, um sich nur auf ein Idiom zu beschränken. Mit seiner Band Dhalgren interpretiert Dahlgren Songs. Seine Songs.

Der Begriff Singer-Songwriter sagt ja noch nichts über die Beschaffenheit der Lieder aus. Chris Dahlgren ist kein neuer Bob Dylan, Leonard Cohen oder Paul Simon, auch kein Konstantin Wecker oder Wolf Biermann, und er möchte auch nichts dergleichen sein. Die Lieder auf „Got Milk“ haben eine transzendentale Eigenständigkeit, die zwar nicht im luftleeren Raum entsteht, aber doch eine völlig neue Kombination aus bereits Vorhandenem und speziell Erfundenen darstellt. Dabei kommt ihm seine Erfahrung als Jazz-Musiker und Schüler von Komponisten wie Christian Wolff und La Monte Young durchaus zugute. Dahlgrens bzw. Dhalgrens Lieder sind nicht fürs Lagerfeuer gemacht. Viel eher wirken sie, als würde Ornette Colemans harmolodisches System, bei dem sich alle Stimmen eines musikalischen Kontexts hierarchiefrei zu einem Metakontext vereinen, Hochzeit feiern mit dem multistilistischen Hybrid von Tom Zés Tropicalismo. Aus allen Himmelsrichtungen kommen Einflüsse zusammen: imaginärer Bossa trifft sich mit Zeitlupen-Folk, hypnotische Drones lösen sich in andächtiger Stille auf, aleatorisches Liedgut vertanzt sich in Bluegrass-Avantgarde. Zwischen alledem navigiert Chris Dahlgrens sanfte Stimme, schiebt sich zwischen Gitarre, Kontrabass, Vibrafon und Schlagzeug und wird selbst zum Instrument, bei dem Gedanken, Wörter und Töne ineinander verschmelzen.

Ein zentrales Motiv des Albums sind Natureindrücke. Die Grenzenlosigkeit der Wahrnehmung in den Bergen hat den in Denver, Colorado, aufgewachsenen Chris Dahlgren nachhaltig geprägt. Nicht umsonst führt ihn sein Lebensweg von den Rocky Mountains über die Straßen-Canyons von New York und Berlin letztlich in die Salzburger Alpen. Egal ob sich seine Songs auf reale Personen oder alltägliche Erfahrungen beziehen, spielt der Eindruck der Berge in allen Tracks des Albums eine entscheidende Rolle. Mit Begeisterung erzählt der Song-Poet vom Anblick der Milchstraße oder des Mondhofs in 4000 Metern Höhe. Ohne ein neues Genre erfinden zu wollen, spricht Dahlgren von Mountain Music.

Mit Gitarrist Arne Braun, Bassist Sidney Werner, Vibrafonistin Evi Fillipou und Sängerin Almut Kühne schart Dahlgren vier Aktivposten der derzeitigen genreübergreifenden Musikszene Berlins um sich. Alle vier haben Erfahrungen im Jazz gesammelt, die sie auf ganz unterschiedliche Weise in ihre Musik einfließen lassen. Evi Filippou ist eine Poetin auf dem Vibrafon, die wie Dahlgren mit jedem Ton eine Story erzählt. Kein Ton ist bei ihr je verschenkt. Ihre Musik klingt wie Gartenarchitektur, bei der das organisch Gewachsene und das kreativ Geschöpfte harmonisch ineinander wachsen. Sidney Werner ist ein mit allen Wassern gewaschener junger Bassist, dessen Ton stets tief mit dem Erdkern in Verbindung steht, sich jedoch nicht immer nur wuchtig und massiv manifestiert, sondern vor allem mit dem Bogen gestrichen auch sehr zarte Facetten aufweist. Arne Braun gehört wahrscheinlich zu den größten Geheimtipps der internationalen Gitarrenlandschaft. Ein Gitarrist, der vor allem deshalb so gut ist, weil er selbst nicht die leiseste Ahnung hat, wie gut er wirklich ist, und deshalb jeden Kontext uneigennützig mit seinem speziellen Idiom veredeln kann. Jeder Ton auf seinem Sechssaiter hat eine beiläufige Dringlichkeit, als wäre es gleichermaßen sein erster und letzter Ton. Vokal erhält Dahlgren in drei Songs Unterstützung von Almut Kühne, die in allen Bereichen der Musik zuhause ist und ein intuitives Verständnis von vokaler Instrumentierung hat.

Sechster im Bunde ist Schlagzeuger Alfred Vogel, ein Allrounder, der als Musiker, Bandleader, Labelbetreiber, Festivalmacher und Netzwerker auf derart vielen Hochzeiten tanzt, dass man sich fragt, wie viele Clones er eigentlich haben mag. Denn jedes seiner Projekte, egal ob er selbst Spiritus Rector ist oder wie bei Dhalgren Sideman, betreibt er mit einer so intensiven Einlassung, als wäre das sein einziges Unterfangen.

Sechs, bzw. sieben Stimmen, da der Bandleader ja nicht nur singt, sondern auch Gitarre spielt, greifen mit einer selbstverständlichen Leichtigkeit ineinander, als wären sie seit dem Pleistozän vereint. Dieser natürliche Eigenlauf der Songs ermöglicht es dem gestaltenden Ohr, sich dem Flow hinzugeben und treiben zu lassen, wohin immer es einen gerade verlangt. Man kann die Worte als Teil der Melodien begreifen, sich einzelne Key-Wörter raussuchen und daraus seine individuelle Message assoziieren oder sich voll und ganz auf die ebenso gedankenverlorenen wie tiefgründigen Lebensweisheiten von Chris Dahlgren einlassen.

Chris Dahlgren singt Lieder über seine Erfahrungen der letzten zwei Jahre. Diese Lieder zeugen von einer großen Verwundbarkeit, aber auch von einer noch größeren Zuversicht. Anders als auf dem Dhalgren-Vorgängeralbum „Songs From A Dystopian Utopia“ beschreibt Dahlgren auf „Got Milk“ keine düsteren Abgründe. „Got Milk“ ist ein Zufluchtsort, ein neues Territorium, das noch nicht definiert ist, sondern die Chance auf die erste wahre Utopie birgt. Auf „Got Milk“ schaltet Dhalgren in düsteren Zeiten das Licht an. (Wolf Kampmann)