So 13. Mai 2018
20:30

Ingrid Laubrock’s Anti-House (D/USA/CAN)

Ingrid Laubrock: tenor, soprano saxophones
Mary Halvorson: guitar
Kris Davis: piano
Tom Rainey: drums

Ingrid Laubrock hat in den letzten zwanzig Jahren einen weiten Weg zurückgelegt. Nicht nur ist die Saxofonistin von Berlin über London nach New York gezogen, sondern sie hat in der Welthauptstadt des Jazz auch Karriere gemacht.
Ingrid Laubrock hat in den letzten zwanzig Jahren einen weiten Weg zurückgelegt. Nicht nur ist die Saxofonistin von Berlin über London nach New York gezogen, sondern sie hat in der Welthauptstadt des Jazz auch Karriere gemacht. Von einer Strassenmusikantin, die in London noch in U-Bahn-Schächten für die Passanten spielte, ist Laubrock in den USA zu einer gefeierten Jazzsolistin avanciert. Unlängst hat sie sogar der Avantgarde-Star Anthony Braxton in sein Diamond Curtain Wall Quartet geholt. Als sie vor fünf Jahren nach New York kam, hat Laubrock die Gruppe Anti-House aus der Taufe gehoben. Das Quintett bildet seither die wichtigste Plattform für ihre kompositorischen Ambitionen. Mit Mary Halvorson an der elektrischen Gitarre und Kris Davis am akustischen Piano besteht die Band – zusammen mit Laubrock – aus drei der stärksten Frauen der heutigen New Yorker Szene. Ebenso kompetent und inspiriert agiert die Rhythmusgruppe aus Tom Rainey (Schlagzeug) und John Hébert (Kontrabass). Klangmalerin würde als Berufsbezeichnung passen. Laubrock hat sich vom Modell des solistischen Jazz verabschiedet und entwirft eine Musik, die auf Atmosphären und Stimmungen aus ist. Gedämpft und verhangen beginnen oft die Stücke, um erst mit der Zeit an Fahrt zu gewinnen. Dann werden energische Töne angeschlagen und die dynamische Skala voll ausgeschöpft, und danach versinken die Stücke wieder in süsse Melancholie. Laubrocks vielschichtige Kompositionen besitzen Ecken und Kanten, wirken manchmal fast sperrig und vertrackt. Vielerlei unerwartete Szenenwechsel sind eingebaut, wobei ab und an vielleicht etwas zu viel in ein Stück hineingepackt wird. Künstlerisch hat die Bandleaderin gewaltig an Statur gewonnen. Sie hat jede Zurückhaltung abgelegt und bestimmt selbstbewusst mit ihrer klaren Saxofonstimme den Kurs, um ihre Bandkollegen souverän durch musikalisch hochdiffiziles Terrain zu navigieren. (Neue Zürcher Zeitung, 25.1.2013)

Mit dieser Besetzung aus einigen der spannendsten New Yorker Musikern kreiert Saxophonistin Ingrid Laubrock auch heute, zehn Jahre nach Gründung der Band, noch immer wegweisende Musik. Die Fülle an musikalischen Texturen, Dichten und Bewegungen, die in jedem einzelnen Stück von Laubrocks „Antihouse“ zu hören sind überwältigt, ihre Phantasie scheint grenzenlos. (Pressetext)

INGRID LAUBROCK ANTI-HOUSE resultiert aus dem Wechsel der Saxophonistin von London nach New York. Ihr Quartett mit Mary Halvorson an der Gitarre, John Hébert am Bass und Tom Rainey an den Drums wird bei einigen der Stücke des Debuts (Intakt CD 173) noch durch ihre Stone-Trio-Partnerin Kris Davis am Piano erweitert. Laubrocks Vorstellungen sind stark genug, um den Geist von Sleepthief (ebenfalls mit Rainey, ebenfalls auf Intakt) mit über den Atlantik zu nehmen. So erklingen neben sprunghaft munteren und, vor allem von Halvorsons lehrbuchwidrigen Saitentraktaten, ungeniert angeschrägten Tönen auch wieder solche, die, Laubrock-typisch, nachdenklich das Kinn aufstützen. Meist kollidieren beide Seiten innerhalb der 6, 7 Minuten, in denen sich viele der Stücke entfalten. Daneben gibt es kurze Kollektivimprovisationen als solche oder als geräusch- und seltsamkeitsverliebte Intros zu den Kompositionen. "Funhouse Clockwork" mit Glockenspiel von Rainey macht loses Gepinge und geräuschhafte Kürzel einfach zum Gestaltungsprinzip. Kühl und sparsam Abgeklärtes und problematische Ungradlinigkeit gehen Hand in Hand, vereint in spröder Poesie. Davis streut dazu ganz kristalline Klangpartikel, spitzfingrig flink. Rainey klickert und kleckert perkussiv, quick, allenfalls fragmentarisch, was Rhythmik angeht, aber vieltönig rollt und wuselt er durch verwinkelte Fluren und treppauf-treppab. Bei Anti-House sind die Dimensionen wie von Maurits Cornelis geEschert. Laubrock fand für diese Insichwidersprüche poetische Namen: "Messy Minimum", "Mona Lisa Trampolin". Auf den kurzen Kladderadatsch "Big Bang" folgt der Beinahestillstand "Big Crunch". "Betterboon" wechselt in sich von Sopranomondstich zu ostinaten Stupsern und Gitarrennoten, so krumm wie verbogene Nägel. "Tom Can"t Sleep" beginnt als Glockenspielwiegenlied, das einem allerdings die Augen so sperrangelweit aufreißt, dass man sich gleich wieder ins Nachtleben stürzen und von Halvorson das Fell aufrauen lassen kann. Ihre verzogenen Töne lassen bei "Oh Yes" nochmal die Fetzen fliegen, "Mona Lisa" zwirbelt nach einer langen Denkpause ihren Dali-Schnurrbart zu Glockenspiel, Schrottgerappel, freigeistigem Getröte und Geplinke. Wie könnte man dieses Lächeln nicht erwidern? (Rigobert Dittmann, Bad Alchemy Magazin 67, Deutschland, Herbst 2010)