Do 28. Juni 2018
20:30
Ein Fest mit und für Dieter Glawischnig

Laut und Luise / Aus der Kürze des Lebens / Die dunkle Seite des Würfels nach Gunther Falk

Videovorführungen
Laut und Luise (Berlin, 1985) – NDR Bigband mit Ernst Jandl
Aus der Kürze des Lebens (Hannover, 1989) – NDR Bigband mit Ernst Jandl
Die dunkle Seite des Würfels nach Gunther Falk (Hamburg, 1994) – NDR Bigband mit Wolfram Berger

Für ERNST JANDL

Aus der Laudatio anläßlich der Verleihung des Österreichischen Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst, Wien 1991
Die Wiener Operette behauptet, ‘wie’s da drinnen aussieht, geht niemand was an’. Was Ernst Jandl angeht, wie er es an-geht und wie es in ihm aussieht, geht alle was an.. Uns alle gehen seine Gedichte, seine Theaterstücke, seine Hörspiele mit Friederike Mayröcker, seine Prosa, Texte, Aufsätze, Vorträge und Reden was an, sein radikaler Wille zur Kunst, zum Produzieren von Gegenständen aus Sprache, -und was er sich beim Machen dieser neuen Gegenstände gedacht hat, wie er an das Machen herangeht, welche Wirkung er erwartet.
Er nagelt uns ‘diesen da tag’ fest mit einer Wortwahl, die alle Kostbarkeit vermeidet, mit Silben, mit Lauten, Buchstaben, mit Bildschriften und mit der Mimik des Körpers als Papier. Ein Kugelschreiber, ein leeres Blatt, ein Fliegenbein, Zigaretten, Whiskey, oder auch gar nichts können der richtige Ausgangspunkt sein, der Punkt also, in dem bereits alles drin ist, so daß es nur noch in leichter Arbeit herausgezogen werden muß. ‘ ich machen an mir sprachüberraschung’ - mit der Präzision eines Schwedenmessers zersägt er, wenn es ihm beliebt, die gewohnten Normen der Sprache und führt von Vorkämpfern Begonnenes zu einer einmaligen, nur ihm selbst gehörenden Einheit von Thema, Wortmaterial und Form, wiederholbar, wenn überhaupt versucht, nur als Plagiat und Parodie.
Leidenschaftlich interpretiert er in seiner Poesie und in seinem Theoretischem zur schriftstellerischen Praxis Kunst, also auch Dichtkunst als fortwährende Realisation von Freiheit, allerdings ohne puristischen Zwang zum experimentell Neuen. Er verwendet Sprache einmal so, dann so. Seine relativ autonomen sprachkritischen Gedichte verzichten nicht völlig auf Bedeutung, bauen auf die Assoziationskraft der Titel,- oft ein letztes Refugium der Normalsprache - und haltenGesellschaftskritik und Engagement so verstanden wirkt schon dort, wo die Sprache aus dem normativen Geleise kippt. ‘ In der Poesie brauchen wir alles, woran, wir uns nicht gewöhnt haben.’ Die Verteidiger der goldenen Köpfe der Klassiker und jeglicher Normen sind die Zielscheibe, wenn mit Mitteln der Kunst die Vorstellung von Normalität vorsätzlich und lustvoll zerstört wird. Nicht die Tradition wird zerstört, zu ihr besteht ein dynamisches Verhältnis. Dazu gehört sie zu kennen, zu wissen was bisher geschah, die passenden Ansatzpunkte für Eigenes zu finden, nicht zu Ende Geführtes auszubauen. Ein neuer Text, wenn er Bedeutung hat, ändert die eigenen Vorstellungen von Kunst und Leben, das ist das Politische. Wir alle bedürfen der Worte, die in eine Richtung weisen, die alte Vorstellungen erweitern, oder diese, wenn unbrauchbar, verschwinden lassen, Worte die uns helfen, aus dem gewohnten herauszutreten, uns von angelebten Zwängen zu befreien, Worte gegen Trägheit und Gleichgültigkeit, die, wenn sie an ihr Ziel gelangen, ‘ dort ein wenig mehr Licht, so wir es brauchen, und ein wenig mehr Wärme, so wir sie brauchen’ hinterlassen. Engagement heißt für Ernst Jandl auch : Bei der Sache sein, als selbstauferlegte Verpflichtung zielstrebig ganz bei der Sache sein. -Ganz bei der Sache ist er, außer am Schreibtisch vor einem leeren Blatt, auf seinen Lesereisen. Er nimmt das Schicksal seiner Gedichte selbst in die Hand, wenn er mit seiner Vortragskunst andere zu erreichen sucht, bei denen noch innere Bewegung vorherrscht - Kinder , Jugend, jung gebliebene jeden Alters. Engagement bedeutet ihm auch, ganz bei der Sache der anderen zu sein, bei der gemeinsamen Sache mit den anderen zu sein. Als Spiritus Rector der Grazer Autorenversammlung gelang es ihm, auf dem Umweg über das Ausland die offizielle staatlich-gesellschaftliche Anerkennung der neueren österreichischen Literatur auch in Österreich gegen einem damals monopolistisch verwalteten ästhetischen Traditionalismus durchzusetzen. das formale Spiel durch die offene semantische Komponente in einem Schwebezustand berstender Spannung, geben dabei nicht alle Verbindungen zur gewohnten Welt auf. Seine Gedichte in oder nahezu in Alltagssprache wiederum - überwiegend Berichte über Erlebnisse, Erfahrungen, Beobachtungen, Reflexionen, gesellschaftskritisch - machen die Erweiterung des Spielraums, die nun einmal erfolgt ist, nicht rückgängig, sondern erreichen ihre Intesität gerade durch die Verwendung jeweils ganz eigener Spielregeln.
‘ Ziel meiner Arbeit, heute wie früher, sind funktionelle, lebendige, direkte Gedichte, gesteuert von welchem Material immer sie ausgehen, in welcher Form immer sie hervortreten, von dem was in mir ist an Richtung und Neigung, an Freude und Zorn. Was ich will sind Gedichte die nicht kalt lassen. Damit verbunden ist die Hoffnung auf eine Veränderung der Dinge durch eine herausfordernde Veränderung der Kunst, durch ein herausforderndes im Werk selbst: ‘Vielleicht daß eine Formel gelingt, die etwas bewirkt’. Gemeinsame Sache macht Ernst Jandl auch mit improvisierenden Musikern. In die lange Reihe der Wegweiser und Weggefährten gehört auch Dizzy Gillespie mit seinem Scat-Gesang. Der Jazzfan und -Kenner verwendet schon in seinen Sprechgedichten eine Art ‘ beat’ in gleichmäßigen rhythmischen Schlägen, seine Lautgedichte sind Vokalsoli - unterwegs zur Musik durch Rhythmus und Klang. Ein grenzenüberschreitendes Teamwork gelingt durch Aufspüren von gemeinsamen Gestaltungskriterien in der Dynamik der vorwärtstreibenden Kräfte beider Sparten, so etwa , wenn sich durch Variations- und Wiederholungstechnik wiederkehrende Elemente in sich verändernden Konstellationen ergeben, mit Zufuhr von immer Neuen. Die neuere improvisierte Musik im Bereich und in der Reichweite des Jazz steht ebenfalls im Spannungfeld von Tradition und Neuerung. Der Kampf zwischen den Traditionalisten in der Musik und solchen Musikern, welche die Formen musikalischer Erfahrung derart umbauen, daß Musik heute lebendig sein kann, gegenüber allem, was nur noch tote Form repräsentiert, steht dem Kampf zwischen den kulturschützenden Humanisten gegen die neue Literatur an Heftigkeit nicht nach. Auch die Jazzer sind daran , zahlreich und gleichzeitig sich jeder ein eigenes Modell von Freiheit zu zimmern, Töne einmal so, und dann so zu verwenden. Dazu kommt allerdings als zweite Front die Auseinandersetzung mit der Realität der Medien. Das Schielen nach der Einschaltquote und der Blickwinkel der Kalkulation auf Produkte, die möglichst schnell und in Massen verkauft werden können, engt den Handlungsspielraum auch gutwilliger und verständnisvoller Förderer ein. Musik und Poesie spielen sich ab in der Dimension der Zeit, ein Hauptpunkt innerhalb der humanen Thematik Ernst Jandls. Ansetzend beim Erlebnis des Augenblicks führt er uns als Aufklärer, Moralist, Erzieher, skeptischer Idylliker und Erzschelm mit all seiner Sprachkunst durch die Zeit, auch zu Gedanken an das Altern und den Tod, zum ‘metaphysischen Loch’, das manche durch Philosophie und Religion notdürftig für sich zu flicken versuchen. Jandls schlichte Feststellung, daß immer alles so weiter geht, beruhigt jedoch und kräftigt. Und: ‘vielleicht eines tages, werde gott wieder da sein, und gar nichts gewesen dazwischen’. Wenn ich heute ein Duke Ellington-Konzert mit meiner Bigband in Hamburg beende, kommt mir der berühmte Ausspruch dieses genialen Musikers in den Sinn, mit dem ich jetzt meine Worte für meinen Freund Ernst Jandl abschließen will: Lieber, lieber Ernst, WE ALL LOVE YOU MADLY.

ERNST JANDL mit den NEIGHBOURS

Ich habe Ernst Jandl während einer Lesung im Grazer FORUM STADTPARK zum ersten Mal live erlebt. Wir alle waren von den Texten und von seiner Vortragskunst hingerissen. Ich spielte damals vor allem mit dem Bassisten Ewald Oberleitner im Duo, wir hatten Verschiedenes ausprobiert und fühlten uns durch die Musik Ornette Colemans bestärkt, die über die auf den Jazz der 50er Jahre fixierten Ohren der Fans hereinbrach. Unser ‘formal und motivisch gebundener Free Jazz’, wie wir unser Spielen nannten, schien uns verwandt mit Jandls Arbeit am Wort-, Silben -und Lautmaterial der Sprache.
Ich bin nicht sicher, von welcher Seite der erste Impuls zu einer Zusammenarbeit ausging; ein erster gemeinsamer Auftritt fand jedenfalls 1966 in Linz statt: ‘Texte in idealer Entsprechung mit dem Glawischnig-Duo. Ein Mann sprach wohlgemessen und exakt wie eine Maschine die Blitz und Donnerbotschaft neuester Lyrik in einen kleinen Saal. Seine Texte fielen wie ein drittes Instrument in das Jazz-Zwiegespräch eines Klavieres und eines Basses ein und trieben die Improvisationen bald schneller- lauter, bald langsamer- leiser voran’, und Heimrad Bäcker verfocht mit Vehemenz die neuen konkreten Texte. Weitere Auftritte folgten, zu Anfang der 70er Jahre auch im Quintett, seit 1974 mit den NEIGHBOURS (mit Ewald Oberleitner und dem Schlagzeuger John Preininger), u.a. bei den Ludwigsburger Schloßfestspielen 1981, Österreichtournee 1983, in Prag bei einer Doppellesung mit Friederike Mayröcker (die sich von mir auch Klaviermusik von Eric Satie gewünscht hatte), zu besonderen Anlässen dreimal in Wien (1984 zum Österreichischen Nationalfeiertag, 1991 anläßlich der Verleihung des Österreichischen Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst an den Dichter - unter Mitwirkung von Christian Muthspiel und des von Ernst Jandl besonders geschätzten Hans Koller, 1993 zum 25.Geburtstag der ‘Sprechblasen’). Gut in Erinnerung geblieben ist mir auch der Auftritt im Duo mit dem Neighbours-Freund und Literatur-freak Manfred Schoof bei den Siegburger Literaturwochen 1990. Die Musik war improvisiert, hielt sich aber immer auf die Art eines ‘head arrangements’ an die abgesprochene Dramaturgie der Texte. Aufgrund der angestrebten ‘motivischen Arbeit’ mit dem improvisierten Startmaterial, welche stets der Struktur der Texte und deren Inhalt verbunden sein wollte, mochten manche Passagen den Eindruck von schriftlich Komponiertem erwecken. Das war jedoch weder unsere Absicht, noch hielten wir dies für besonders wünschenswert. Wir haben uns leider nicht um professionelle Konzertmitschnitte gekümmert, was ich heute sehr bedaure.

ERNST JANDL mit der NDR BIGBAND
Anmerkungen zu ‘Laut und Luise’ und ‘Aus der Kürze des Lebens’

‘Laut und Luise’ wurde 1982 im Rahmen des damals noch ‘New’ genannten Jazz Festivals in der Hamburger Fabrik uraufgeführt. Ein ‘Heimspiel’ fand 1983 beim ‘Steirischen Herbst’ in Graz statt, weitere Aufführungen 1985 in Hannover und beim Jazzfest Berlin ( davon die vorliegende Fassung ). ‘Aus der Kürze des Lebens’ wurde 1989 nach einer Vorpremiere in Wolfsburg im Funkhaus Hannover als TV-Konzert produziert (davon die CD-Fassung mit wenigen Schnitten in die Wolfsburger Aufführung). Für das Grazer Programmheft schrieb Ernst Jandl: ‘Nachdem 1980 Dieter Glawischnig die Leitung der Bigband des Norddeutschen Rundfunks Hamburg übernahm, wünschte er meine Mitwirkung als Sprecher eigener Texte im Rahmen seines Orchesters. Ich zögerte. Wie sollte ich es wagen, meine Stimme inmitten eines so gewaltigen, farbenreichen Klangkörpers zu betätigen? Im Frühjahr 1982 verließen mich meine Argumente am Telefon, das immer meine verletzlichste Stelle ist. Ich versprach Dieter Glawischnig, ihm für seine große Komposition zur Verfügung zu stehen. Mein Einwand, ich hielte eine echte Integration des von mir zu sprechenden Textes in die Musik des Orchesters für ausgeschlossen, verfing nicht. Eine Arbeit begann, wie ich sie mir in ihrer Schwierigkeit und Härte nicht vorgestellt hatte’.
Meine kompositorische Absicht war tatsächlich eine Integration von Sprache und Musik. Unter Verzicht auf ein Jazz und Lyrik-Verfahren nach dem Motto ‘ein Gedicht- eine Melodie’ sollte ein durchkomponierter ‘Opernakt’ entstehen, ein Melodram mit dem Sprecher als Hauptsolisten im Mittelpunkt.( Die Platte, die mich seinerzeit am meisten beeindruckt hatte, war eine mit Polnischer Lyrik, mit Musikern aus dem Umkreis von Kristof Komeda und mit Helmut Lohner als Sprecher; das Gedicht über Giordano Bruno auf dem Campo di fiori habe ich seither nie vergessen.) Das Schwierige mag für Ernst Jandl wohl darin gelegen haben, daß er sich genau in den formalen Ablauf eingliedern sollte. Anders als im loseren improvisierten Zusammenhang innerhalb kleiner Gruppen waren nun viele Einsätze des Sprechers ‘on cue’ gefordert, außerdem an bestimmten Stellen ein beat-bezogenes Sprechen ‘im Takt’. Ich hatte mich bei meinen notierten Rhythmisierungen zwar immer an Jandls eigenen Sprechrhythmus gehalten, den ich gut kannte. Es war für ihn aber doch etwas anderes, seine eigene ‘natürliche’ Interpretation nun haargenau im Schraubstock des Metrums und umgeben vom ‘Getöse’ eines großen Jazzorchesters nachvollziehen zu ‘müssen’. Ernst Jandl hat diese Aufgabe ohne Verlust von Schwung blendend gelöst. Meine Auswahl der Gedichte führte zu thematischen Gruppen, mit denen ich etwas anfangen zu können glaubte. Ernst Jandl stimmte mit einigen Ergänzungen zu und gab den Stücken ihre Titel. Wirkungsvolle Libretti, wie wir meinten, wurden in Arbeitssitzungen schnell gefunden, es ergaben sich für ‘Laut und Luise’ die Themenkreise ‘Konkretes mit Witz’, ‘Krieg’, ‘Geschlechtliches’, ‘tagenglas’, ‘Tierwelt’ und ‘Mensch’ (‘vermessen’). Die Gruppen in ‘Aus der Kürze des Lebens’ bekamen die Arbeitstitel ‘Zum Schreibprozeß’, ‘Zigarettenrauchen’, ‘Schwarze Pädagogik und soziale Beziehung’, ‘Liebe’, ‘Gott’ und ‘Zeit, Augenblick, Tod’. Die Gedichte für ‘Aus der Kürze des Lebens’ gehören mit Ausnahme einzelner Sprechgedichte zu der Gruppe von Texten, die Ernst Jandl nahezu in Alltagssprache geschrieben hat. Ich habe in diesem zweiten Jandl-Opus nicht absichtlich auf Lautgedichte und auch auf weitere Sprechgedichte verzichtet, auf in ihrer Wirkung erprobte ‘Hits’ - erprobt nicht nur vom Vortragenden auf vielen Lesereisen, sondern auch im Zusammenwirken mit der Musik unseres Trios, aus dem sich das Gesamtkonzept von ‘Laut und Luise’ herauskristallisiert hatte. Dieser Verzicht, der keiner ist, war nur das Ergebnis meiner Vorliebe für bestimmte Themen. Dabei war klar, daß Wortgebilde wie ‘flottsch ‘ oder ‘schtzngrmm’ leichter und fast mit zwingender Automatik die Ohren der Zuhörer erreichen, als Zeilen wie diese, die gegen Ende des Stückes Verwendung fanden: ‘vieles schon / betrachte ich / aus der sicht der anderen’. Wird Jazz in der Tradition der engagierten Musik als kraftvolles Transportmittel für Texte (‘Botschaften’) eingesetzt, so ist zu allererst auf Wortverständlichkeit zu achten: Kein einziges Wort, keine Silbe, kein Laut darf durch übertönende Instrumente gefährdet werden. Dennoch sollte eine Balance zwischen Musik und Sprache entstehen, das Orchester und die Solisten (die ich mir aussuchen konnte) mußten in ihrem eigenen Medium zu Wort kommen können. Ich habe folgende Besetzungen ausgenützt: Sprecher solo, Sprecher im call & response- Verfahren mit Solisten oder kleinerer Besetzung, Sprecher mit vollem Orchester, Orchesterblöcke ohne Text, längere improvisierte Passagen der Solisten, einzeln oder im Kollektiv, auch eine Tonbandmontage an geeigneter Stelle.
Ernst Jandl macht es Musikern, die seine Texte in Musik umsetzen wollen, eigentlich sehr leicht. Als ‘Weltbilder in Kompaktform’ sind sie in ihren Sprachmitteln oder in ihrer inhaltlichen Aussage derart präzise, daß es eines sehr fortgeschrittenen Grades an Verstocktheit bedürfte, daß einem(r) dazu nichts einfiele. Daß er Sprache ‘einmal so, dann so’ ohne puristischen Zwang zum experimentell Neuen verwendet und dennoch immer jeweils ganz eigene Spielregeln erfindet, erlaubt auch dem Musiker den Einsatz der ganzen Palette der Ausdrucksparameter seines Metiers, um seiner Fantasie ungehindert durch ausschließende Normen stilistischer Art freien Lauf zu lassen. Am Anfang beider Stücke steht das Wort, in ‘Laut und Luise’ von ‘fortschreitender räude’ zersetzt und spitz und giftig oder belanglos und geschwätzig zu seinem kommunikativen Nullpunkt geführt ( Party?-’talk’). Alle Musiker improvisieren mit rythmisch notierten Kürzeln, die dem Vortrag des Sprechers entlehnt sind. Jandls Sprachwitz verleitet zu musikalischen ‘gags’, die sein mußten. ( ‘ottos mops’ hurtig durch das Orchester hüpfend habe ich mir verkniffen; dieser Klassiker mußte solo bleiben). Gags wurden, wenn immer möglich, in einen musikalischen Zusammenhang gestellt: In ‘portrait eines mädchens’ antwortet die Baßposaune auf die Orchester-Sirene mit einem Intervallsprung in die Gegenrichtung und nimmt damit die Baßfigur des darauffolgenden ‘bericht über malmö’ vorweg. Dieser erste größere Musik-Block übernimmt die Jandlsche Reihungs-und Permutationstechnik: Die sections der Bigband werden in einer Art Etagentechnik zu einem Tutti geführt, das die solistischen Ausflüge von Herb Geller, Manfred Schoof und Gerd Dudek umrahmt. (Ähnlich auch ‘auf dem land’). Für die längere Kriegs-Szenerie (‘fragment’ bis ‘falamaleikum’) habe ich auf ein älteres 12-Ton-Stück (‘Lines’) zurückgegriffen. Das Material des zweistimmigen Kontrapunkts , auch in Umkehrung, schien die passende Erregungs-Potenz , auch für die Solisten John Marshall, Wolfgang Schlüter, Werner Rönfeld am Bariton, für mich am Klavier und für Schoof zu haben und war auch als Basis des schwebenden polyphonen Gewebes für ‘henker...’ verwendbar. Im anschließenden ‘reich der toten’ hatten die Musiker Jandls Lautgedicht vor sich und waren gefordert, direkt mit sounds auf den Vortrag des Sprechers zu reagieren. ‘geschlechtsumwandlung’ zitiert das Kopfmotiv des ‘ lieden, den wird allen bekannt sein’ als shouting response des Orchesters mit dem Sprecher; quiekende Klarinetten aus gegebenen Anlaß. Der Zyklus ‘tagenglas’ ist eingebettet in ein ständig wiederholtes unregelmäßiges pattern - ‘die zeit vergeht’, darüber die eindringlichen Szenen aus dem täglichen Leben in Jandls heruntergekommener Sprache.
Die Texte ‘inhalt’, ‘darstellung eines poetischen problems’ und ‘...er habe immer etwas zu sagen gehabt’ am Beginn von ‘Aus der Kürze des Lebens’ betreffen zentrale Anliegen aller Kunstmacher. Ein algorhythmisches Intervall-Modell (‘ein zwölftes wort’ - 12 Intervalle), im weiteren Verlauf des Stückes auch als Lieferant von geordneten Zusammenklängen brauchbar, bildet die Basis. Die Orchestermusiker, präzisen ‘verrückten’ Noten folgend, und die Solisten, diese umspielend, schrauben sich in mehreren Anläufen wie eine Spirale nach oben. Durch die kreative Mitwirkung von Conny Bauer, Christof Lauer, Manfred Schoof und Andreas Schreiber konnte mit einer gelingenden Verzahnung von Komposition und Improvisation gerechnet werden. ( Für analysierende Material-Fetischisten: Die Intervall-Idee ist auch im Dialog Jandl/Lauer in ‘glauben und gestehen’ versteckt, auch im Orchester-Tutti, das dem Text ‘an gott’ folgt, zwischen 3. und 4. Trompete, und trägt auch das Schlußduett mit Ernst Jandl und mir gegen Ende des Stückes). An anderen Stellen deuten - ‘transportieren’ - einfache Lieder den Text, so wie ich ihn sehe (‘my own song’). Beide Werke werden von einem großen Finale im ¾ - Takt abgeschlossen, wie es mir als Österreicher zusteht: ‘vermessen’ , ‘diesen tag / begehen / wie einen grund / oder wie ein fest / ohne grund zu einem fest / ohne festen grund’. Carpe diem, trotz allem.

Zur Arbeit der NDR BIGBAND

Die Bigband, 1945 als Radio-Tanzorchester entstanden, feiert ihr 50-jähriges Jubiläum. Henri Regnier, der legendäre Unterhaltungschef, und der langjährige Leiter des Orchesters Franz Thon hatten 1963 die Idee, der traditionellen Tanzmusik durch Engagements von Instrumentalsolisten weitere Spielarten der Unterhaltungsmusik hinzuzufügen. In der Praxis wurde die Musikproduktion mit der damals so genannten STUDIO BAND bald überwiegend vom Jazz bestimmt. Das stilistische Spektrum reicht seither vom Swing bis zur Jazzavantgarde, die seit 1971 von Wolfgang Kunert in die Produktionsplanung einbezogen wurde. Seit 1974 wird die Arbeit des Orchesters ( heute BIGBAND) regelmäßig in Konzerten vorgestellt.
Von den Hunderten von Produktionen und Konzerten, die ich selbst gemacht habe,-wir laden regelmäßig Gastdirigenten für ihre Musik ein, z.B. Phil Wilson, Jack Walrath, Chuck Israels, Bill Dobbins, Herb Pomeroy, Jiggs Whigham, Don Menza, George Gruntz, Ray Anderson, Steve Grey - , nenne ich: das Konzert mit Chet Baker wenige Tage vor Amsterdam (auf CD’s veröffentlicht), die Zusammenarbeit mit Johnny Griffin, Bill Holman, Guy Lafitte, Peanuts Hucko, Attila Zoller, mit Etta Cameron; im zeitgenössischen Bereich die Arbeit an Braxtons vertrackten Partituren, die Mobiles von Tony Oxley, die Orchesterstücke von Mangelsdorff, Dauner, Schoof, Schlippenbach, Heiner Stadler, die Ellingtonproduktion mit Heinz Sauer und Tomasz Stanko, für die wir Günter Lenz als Arrangeur entdeckt haben, das Benny Wallace-Projekt für Berlin, Konzerte mit der Mingus Dynasty und mit Dino Saluzzi , den Kontakt zur englischen Szene (Kenny Wheeler, John Taylor, Norma Winston, Stan Tracey, Alan Skidmore, John Marshall, John Surman), solistische Gäste wie Maria Joao, Gerd Dudek, Dave Liebmann, Walter Norris, Fritz Pauer, Fred Anderson, Bill Brimfield, Andreas Schreiber, Charlie Mariano, Conny Bauer, Luten Petrowsky, (u.u.). Die Bigband selbst konnte in der letzten Zeit mit hervorragenden Jazzmusikern wie Christof Lauer, Lutz Büchner, Fiete Felsch, Peter Bolte, Lennart Axelsson, Johannes Faber, Ingolf Burkhardt, Rainer Winterschladen, Joe Gallardo, Lucas Schmid und Stefan Diez besetzt werden; Lucas Lindholm ist schon längere Zeit dabei, Herb Geller und Wolfgang Schlüter, die beiden improvisierenden Glanzlichter schon in früherer Zeit, sind vor kurzem ausgeschieden, Howard Johnson ist leider nach New York zurückgekehrt.
Zeitgenössische Jazzkomposition steht im Spannungsfeld von Tradition, Free Jazz, Rock/Pop/Electronic Sound, Einflüssen ethnischer Musik (‘Weltmusik’) und Neuer Musik und hat in der Arbeit der Bigband zu originären Ergebnissen geführt. Das NDR-Archiv ist angefüllt mit Perlen in Form von Tonbändern, die diese Entwicklung dokumentieren. Nicht immer nur das schon oft Gehörte, Bekannte und Vertraute hören zu wollen (oder zu müssen) wäre die einzige Vorbedingung für eine aufgeschlossene, aufmerkende und wohlwollende Auseinandersetzung des Zuhörers mit dem in welchem Maße auch immer ‘Neuen’. Ich glaube, daß die Formel ‘Bemühung um zeitgenössische künstlerische Ausdrucksformen auf der Basis der Tradition der großen Vorbilder’ unsere Arbeit akzeptabel und vertretbar macht, auch gegen den Widerstand der populistischen Quotenzähler im Hahnenkampf von Kunst und Kommerz zwischen den Öffentlich-Rechtlichen und den Privaten. (Dieter Glawischnig)

Dieter G., ein unentwegter Freigeist

Maestro Dieter Glawischnig, Pianist, Komponist, Arrangeur und Ex-Chefdirigent der NDR-Big Band, hat in Graz und Hamburg Jazzgeschichte geschrieben. Als Grandseigneur des Free Jazz ist er auch mit 80 von juveniler Neugier.

Wenige wissen, dass der Pianist Dieter Glawischnig einst auch Posaune gespielt hat. Wann haben Sie darauf den letzten öffentlichen Ton erzeugt?

Dieter Glawischnig: Das war Ende der 70er. Zuerst habe ich ja Trompete gespielt, aber ich hatte immer Ansatzprobleme in der Höhe. Dann bin auf Posaune umgestiegen und habe recht gut gespielt.
Ich war damals sogar Gast-Substitut in der ORF-Big Band bei Fatty George und Karel Krautgartner. Ich habe dann auch ein schriftliches Angebot erhalten, in die ORF-Big Band einzusteigen, aber da war ich schon in Graz als Korrepetitor am Opernhaus beschäftigt, und die Jazzabteilung hat sich auch so langsam entwickelt

Und wie war das jetzt genau mit der Gründung der Grazer Jazzabteilung, dessen Leiter Sie einst waren?

Dieter Glawischnig: Das war ja so: 1965 wurde dieses Institut für Jazz mit Forschung und Praxis gegründet und 1968 haben wir es geteilt in Forschung und das „Seminar für Jazzpraxis“, wie das damals hieß. Im Jahr 1971 wurde dann die damalige Akademie zur Hochschule erhoben, und dann hieß es „Abteilung Jazz“. Den Praxisbetrieb habe ich von 1968 bis 1975 geleitet.

Wer Dieter Glawischnig sagt, muss auch The Neighbours sagen. Dieses legendäre Trio war einst mit seinem motivisch gebundenen Free Jazz der Zeit voraus und feierte internationale Erfolge. Wurde das auch im Lande selbst so erkannt?

Dieter Glawischnig: Am Anfang nicht, aber als wir dann die großen Tourneen gemacht hatten, Süd- und Nordamerika, New York, große deutsche Festivals und so weiter, dann hat es sich auch in Österreich herumgesprochen. Und dann vor allem nach der Arbeit mit Anthony Braxton und den anderen Chicagoern wie Fred Anderson oder Bill Brimfield, aber auch mit einigen Deutschen wie Albert Mangelsdorff, Gerd Dudek oder Manfred Schoof, mit denen wir auch in Graz einige Male zusammen gespielt hatten.

Kann man sagen, die Etablierung der NDR-Big Band als eine Jazzband und die Gründung der Jazzabteilung an der Musikhochschule Hamburg waren die wichtigsten Baustellen Ihres Lebenswerkes?

Dieter Glawischnig: Ja, das kann man schon sagen. Und dann vielleicht auch noch die ersten sieben Jahre als Abteilungsleiter der Jazzpraxis in Graz. Aber Hamburg, das war dann schon etwas ganz Besonderes. Dort konnte man nämlich die Praxis im NDR – Hamburg war ja Anfang der 80er so etwas wie das Jazz-Mekka – mit der Theorie und Pädagogik verbinden, was mich immer schon interessiert hat. Der ORF hat damals für die Jazzer ja sehr wenig gemacht.

In Hamburg haben Sie ja auch Ihre Band Cercle gegründet. War das immer schon ein Trio?

Dieter Glawischnig: Nein, das war zuerst ein Quintett, und dann hat sich mit großer Freude ein Trio mit dem Schlagzeuger Tony Oxley herauskristallisiert. Den hatten wir schon vorher zu einigen Produktionen mit der NDR Big Band eingeladen. Das war ja das Interessante daran: vom gehobenen besten Mainstream bis in die Avantgarde mit Braxton, Oxley und was weiß ich, wen wir alles hatten. Dieses Trio war dann auch recht aktiv in New York und auf einer England-Tour.

Sie haben immer auch schon die Zusammenarbeit mit Literaten gesucht, Ernst Jandl und auch einige Vertreter der „Grazer Gruppe“ wie Gunter Falk zählten dazu. Waren diese am jazzkompatibelsten?

Dieter Glawischnig: Erstens war´s meine Liebe zur Literatur im Allgemeinen und dann natürlich zu Leuten, die ich im Forum Stadtpark kennen gelernt habe wie Jandl, Falk und andere. Dann kamen viele Literatur-Konzerte in Hamburg, vor allem mit dem Schauspieler und Schriftsteller Dietmar Mues. Mir war´s dabei ganz simpel gesagt wichtig, die Botschaft des Textes zu transportieren, und da die Texte so verschieden waren, ergaben sich auch verschiedene Arten von Musik. (Otmar Klammer, Kleine Zeitung, 07. März 2018)

_
Dieter Glawischnig (* 7. März 1938 in Graz) ist ein österreichischer Jazzmusiker (Piano, Komposition, Posaune, Bandleader) und Hochschullehrer.
Nach seinem Studium an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz (neben den Instrumenten auch Dirigieren und Musikwissenschaft) arbeitete Glawischnig ab 1963 als Posaunist ohne Festanstellung im Österreichischen Rundfunkorchester. Anschließend war er in der Grazer Oper als Korrepetitor tätig und leitete von 1968 bis 1975 die Jazzabteilung der Musikhochschule Graz. Nachdem Glawischnig 1973 in Hamburg die Leitung der damaligen NDR-Studioband übernommen hatte und diese seit 1980 zur NDR Bigband weiterentwickelte und vor der Auflösung rettete, hatte er seit 1982 bis zu seiner Emeritierung 2003 eine Professur an der Musikhochschule der Hansestadt inne und baute dort nach Grazer Vorbild eine Jazzabteilung auf. Der NDR Bigband stand er als Chefdirigent bis 2008 vor. 1974 gründete er mit Ewald Oberleitner und John Preininger die Band The Neighbours, mit der er eine Synthese aus frei improvisierten und auskomponierten Elementen anstrebt und die national wie international zahlreiche Tourneen und Festivaleinladungen absolviert. Glawischnig hat dort unter anderem mit Fred Anderson, Anthony Braxton, Karl Berger, Gerd Dudek, Albert Mangelsdorff und John Surman zusammengewirkt. Glawischnig ist an einem gleichberechtigten Umgang von Text und Musik besonders interessiert, wobei er auf eine Integration der Ausdrucksbereiche beider Bereiche abzielt (anstelle eines nach seiner Ansicht häufig beziehungslosen Nebeneinander von Jazz & Lyrik). Der Sprecher ist dabei gleichwertiger Solist, die improvisierenden Spieler agieren mit dem Sprecher auf gleicher Augenhöhe. Glawischnig setzt sich immer wieder intensiv mit den Gedichten Ernst Jandls auseinander. Seine Komposition „Aus der Kürze des Lebens“ hat er 1989 mit der NDR Bigband und den Solisten Manfred Schoof, Christof Lauer, Conny Bauer, Andreas Schreiber, John Marshall und Ernst Jandl als Sprecher aufgeführt. Mit Schreiber und Marshall arbeitet er auch in seiner Duo- und Trio-Gruppe Cercle zusammen, die in der Vergangenheit für Rezitationen zusätzlich um den inzwischen verstorbenen Dietmar Mues als Sprecher verstärkt wurde. Nach Texten von Gunter Falk schrieb er das Stück Als die Synagogen brannten zum 50. Jahrestag der sogenannten Reichskristallnacht.

Eintritt: Pay as you wish an der Abendkassa bzw. 7,50.- € im VVK inkl. Sitzplatzreservierung