Sich der Wertschätzung eines Jazzclubs bloß über die Musik zu nähern hieße, jenen Fehler fortzuschreiben, aufgrund dessen man im Wiener Musikverein nicht den (Kunstmusik-)-Tempel (inklusive neogriechischer Karyatiden), in der sonntagvormittäglich konkurrierenden Augustinerkirchenmusik nicht den katholischen Gottesdienst, im Flex nicht den Club, im Rhiz nicht die Bar, sondern überall nur den Hör-Ort, den Konzertsaal, den „music venue“ sieht. Es ist aber nicht einfach so, dass Musik eine Funktion hätte, die in bestimmten Räumen auf bestimmte Weise erfüllt wird. Es ist nachgerade umgekehrt: (Soziale) Räume haben eine bestimmte Funktion, und Musik hilft ihnen dabei, diese zu definieren.
Musikverantwortliche Programmdirektoren hören das selbstverständlich nicht gerne, arbeiten sie doch ihrem Selbstverständnis nach tagtäglich an einer Musikkonstellation, die – neben der Erfüllung von künstlerischen, finanziellen und anderen Kriterien – nicht zuletzt identitätsstiftend wirken soll. An genau dieser Bruchlinie zwischen dem Club mit seiner dazugehörigen Musik einerseits und einer Musik mit ihrem adäquaten Aufführungsort andererseits verlief nicht zufälligerweise auch im Jazz eine der Fronten im Kampf um künstlerisch-ästhetische Autonomie und ein neues Selbstverständnis der Musiker. Und an dieser Stelle kann man auch mit der Polarisierung wieder aufhören: Selbstverständlich handelt es sich um eine Rückkoppelungsschleife. Die ist letztendlich ziemlich komplex und hat nicht zuletzt eminent kulturpolitische Aspekte, aber in ihrer Grundform heißt das: Der Club braucht, um zu funktionieren, identitätsstiftende Musik; die Musik(er) braucht/brauchen, um ausprobieren und sich weiterentwickeln zu können, funktionierende Clubs. Von den Anfängen bis in die Gegenwart gäbe es kein Konzert-, Tournee-, Produktions- und Schallplattenleben, gäbe es nicht den Alltag des Clubs. Der im Vergleich zu sowohl Festivals als auch Plattenproduktionen ungleich intimere und darin subtilere Kontakt mit dem Publikum ist die Basis für den Aufbau von realem, aber vor allem auch symbolischem Kapital, von Renommee und Kontakten. Insofern hat dieser Alltag nicht nur musikalische Aspekte, sondern aus der Perspektive der Musiker ebenso wie aus derjenigen der Betreiber auch ökonomische und soziale. Genau darin liegt sogar der Wert des Alltäglichen. Wirft man aber einen Blick in alte und neuere Standardwälzer zum Thema Jazz – von Polillo über Berendt bis zum voluminösen Mathildenhöhen-„That’s Jazz“-Katalog, fällt auf, dass man zwar neben den üblichen Stil-, Epochen und Personenkapiteln eigene Kapitel zu den Themen Jazzfestivals, Plattenlabels oder gar „Jazz und Fernsehen“ finden kann, kaum aber zum Thema „Jazzclub“. Der blinde Fleck der Wahrnehmung scheint genau dort zu sitzen, wo die Alltäglichkeit zuhause ist. Ausgerechnet der Club als die essenzielle Basis entgeht damit oftmals der (beschreibenden oder analysierenden) Wahrnehmung.
Gleichzeitig essenziell für die Weiterentwicklung der musikalischen (Jazz-)Wirklichkeit einer Stadt zu sein und als Stadtraum schlicht alltäglich Musik zu brauchen und zu verbrauchen: Am Gelingen dieses Spagats erkennt man die Qualität eines Clubs. Das Porgy scheint in seiner jetzigen Erscheinungsform – nach Phase eins in der Spiegelgasse und temporärem Nomadentum – sowohl räumlich als auch programmgestalterisch diesem Spagat ziemlich nahe zu kommen. Im Makrokosmos des Stadtlebens (und der nächstgrößere Kontext der internationalen Positionierung sei hier generös subsumiert) ist die Abgrenzung zu anderen Clubs erforderlich – ein ernstes Spiel mit vielen Variablen von künstlerischen Vorlieben über akustische Qualitäten bis hin zu potenziellem Fassungsvermögen und realer Auslastung, ein Spiel mit (im für die Stadt und die Musik günstigsten Fall) mehreren Gewinnern in mehreren Sparten und Nischen. Im Mikrokosmos des Clublebens hingegen ist die Vielfältigkeit der Benutzungsmöglichkeiten ein Kriterium, an dem sich clubmäßig die Spreu vom Weizen trennt. Und das Porgy ist auch in dieser Kategorie schwer zu überbieten: Von der möglichen, aufmerksamen Hörhaltung an den Tischen im Inneren des elliptischen Klangraums über die etwas distanziertere auf der Galerie hin zur mehr am sozialen denn am musikalischen Zuhören interessierte Haltung an der Bar lässt sich alles gleichzeitig bewerkstelligen – alles bloß eine Frage der persönlichen Entscheidung des Stadtmöbelbenutzers. Und genau deswegen ist das Stadtmöbel Porgy als so vielfältig bespielbarer Ort eine überraschend Vielfältiges produzierende Musikmaschine: Von der leisesten Improvisation über kammermusikalischen Jazz über bigbandmäßig Groovendes bis zur hingeknallten Abtanzmusik geht sich akustisch und sozial alles aus.
(Soziale) Räume haben eine bestimmte Funktion, und Musik hilft ihnen dabei, diese zu definieren: Als der Wiener Musikverein als Kunsttempel entworfen und gebaut wurde, benötigte ein neues Bürgertum neue Räume jenseits von Schloss, Palais und Kirche für ein gerade erst zuvor entstandenes neues Verständnis von Musik als Alternativreligion, als etwas Metaphysisches. Als in Wien das Porgy gegründet wurde, benötigten neue Generationen von Musikern und Musikhörern – in ihrer Spannweite auch nachlesbar an der Zusammensetzung des Gründungstriumvirats Rüegg/Deppe/Huber – einen neuen Raum für ein neues (Jazz-)-Selbstverständnis als sowohl Kunst wie auch Unterhaltung in einer städtischen Gesellschaft, die mit künstlerischen Kategorien wie „neu“ und „alt“, mit ästhetischen Kategorien wie „Kontext“ und „Sozialraum“, mit ökonomischen Kategorien wie „symbolischem“ und „realem Kapital“ virtuos umzugehen gelernt hat. Aus den Bedürfnissen von Musikhörern und Musikern entwickelte sich ein Club, um jenseits von eingefahrenen Jazzhaltungen den Spagat aus Versuch und Routine, aus Groove und Experiment, aus Aufmerksamkeit und Unterhaltung zu wagen. Ob ein musikalisch ausgerichtetes Stadtmöbel tatsächlich eines wird, als solches benutzt wird, sich auch weiterentwickelt, hängt eben von verhältnismäßig komplexen Rückkoppelungseffekten ab, in denen die Musik (mit ihrer Qualität und Aktualität) nur einer von vielen Faktoren ist – wenn auch der grundlegende: „The music is you“ (Sun Ra).