DI 12. März 2019
„Freie Radikale“ und die versatile Strenge
GEORG GRAEWE & SONIC FICTION ORCHESTRA
Georg Graewe (p, cond), Frank Gratkowski (cl, bcl), Maria Gstättner (basson), Sebi Tramontana (tb), Sara Kowal (harp), Martin Siewert (e-g, lap steel-g, devices), Joanna Lewis (v), Melissa Coleman (cello), Peter Herbert (b), Wolfgang Reisinger (dr)
Wieder in Stammbesetzung. Vorweg angemerkt, von mittlerweile außerordentlicher Qualität und Reife ist die Kongruenz innerhalb des Großensembles. Es ist dieser gemeinsam angestrebte und jedes Mal aufs Neue implementierte Schmelzpunkt des musikalischen Schaffensvorganges der, wie derzeit in keinem anderen Konzept, eine Trennlinie, hörbar oder gedacht, zwischen explizit formaler Strenge und der intuitiven, „fassungslosen“ Improvisation in so erhellender, keinen Moment lang fragwürdiger Weise atomisiert. Für Graewe stand nie außer Frage beide Organisationsprinzipien gleich werten zu müssen. Kann derart souverän anhand des notierten Materials inklusive der ad hoc auszufüllenden Leerräume tonkünstlerisch hochwertige „Regenbogenmusik“ herausfließen, brechen sich darin wahrhaftige Erfindungen und Empfindungen in Harmonien, Melodien, Formen und Klangfarben. Diesen Abend griffen konzise Einheiten beider Prinzipien ineinander. Ein schlichtes, Zweiakkord-Motiv mit ergreifendem, konsonantem Zuspruch erhob sich zu aller erst in den Raum. In Ruf/Antwort-Manier zwischen Piano und restlichem Ensemble vervielfachte sich das Konzentrat zu einem feinstofflichen, vertrackten Klangband, das Anregungen der schönbergschen Reihentechnik verarbeitete, eine intensive Ausdrucksgeste transportierte und aufregend mit Spannung und Auflösung befasst war. Im Vorab vereinbarte Kleingruppierungen, vom Duo bis zum Quartett, übernahmen hernach von dieser Einheit die frei improvisatorische Initiative. Darunter zumeist neue Konstellationen wie Cello/E-Gitarre, Posaune/Harfe, Bassklarinette/Geige, Fagott/Bass/Harfe, allesamt ein überraschendes, ungewöhnliches Klangfarbenspektrum auftischend, und natürlich Konstanten wie Piano/Bass/Schlagzeug. Im nächsten Atemzug hielten dann wieder kalkulierte Sequenzen behutsam Einzug.
Bewegungsdynamisch schwelgte der erste Teil des Werkes im Rubato und Graewe nutzte dermaßen gekonnt einen retardierenden Habitus, wodurch das Spannungsgefüge der Musik dem Zerreißen nahe war. Verstärkt wurde die Dringlichkeit zusätzlich durch das geschickt gelenkte Aufeinanderprallen der divergierenden Melodierhythmen. Freiakzentuierte Chiffren vom Schlagzeug zogen diesbezüglich von Zeit zu Zeit abermals die Intensitätsschraube gehörig an. Und unerwartet wandelte sich plötzlich die Abstraktion temporär in einen konventionellen Jazz-Duktus. Vehement swingende Rhythmusfiguren, ein sattes jazzharmonisches Arrangement durchpflügt von herrlichen Chorussen des Pianisten. Dann wehten da noch Splitterakkorde , Noise-Attacken und Reduktionselektronik der E-Gitarre, in bester Avant-Rock Manier, herüber. Im Non-Konformen, Eigenen entschwand die Tonschöpfung in the Air. Großorchestrale Konzeption von Bedeutung für den gegenwärtigen Jazzvorstoß, findet man in kaum gewichtiger „Züchtung“ als in Georg Graewes „Deterisation“-Prinzip.