25. April 2019
Von Hannes Schweiger

FR 19. April 2019
Ästhetik als Widerstand
GEORG GRAEWE & SONIC FICTION ORCHESTRA
Georg Graewe (p, cond), Frank Gratkowski (cl, bcl), Maria Gstättner (basson), Sara Kowal (harp), Martin Siewert (e-g, devices), Melissa Coleman (cello), Peter Herbert (b), Wolfgang Reisinger (dr) + Gast: Anne Marie Dragosits (cembalo)

„Wir leben in einer schwierigen, komplizierten Zeit“, ist allerorts immer wieder von denkenden, sensiblen Menschen unterschiedlichster Profession zu hören. Doch ganz nüchtern betrachtet: das Leben/Zusammenleben ist seit jeher eine komplexe Herausforderung. Was allerdings heute nach all den Ansätzen und Errungenschaften bezogen auf Freiheit und Humanität in der westlichen Hemisphäre seit Mitte des vorigen Jahrhunderts so unfassbar erscheint: Man sieht sich wieder verstärkt mit zwischenmenschlicher Verrohung konfrontiert. Egomanie, Xenophobie und die turbokapitalistische Entmenschlichungsspirale mit seiner Empathiebefreitheit begünstigen diesen Umstand. Fußend auf dem Nährboden  der Bildungsferne, jedoch nicht ausschließlich, und des überhand nehmenden Populismus jedweder Richtung, allerdings der perfiden Rechtsdemagogik im speziellen. Die letztlich die Würde des Daseins untergräbt. Desavouierende  Begriffe  wie z.B. „illiberale Demokratie“, den einstige Nutznießer einer pluralistischen Gesellschaft ausrufen und etablieren wollen, finden in der politischen Kaste Akzeptanz. Hinzu kommt zum Überdruss die unentwegte verbale Diarrhoe eines rechten Bodensatzes. Das lässt sich nur mit Abscheu quittieren und einen opponierenden, freigeistigen Lebensentwurf entgegenhalten, der  in der Kunst bzw. der Auseinandersetzung mit ihr den wahrscheinlich eindrücklichsten Katalysator findet.

Kunst oder im vorliegenden Fall ganz konkret Musik nun als Allheilmittel mit Weltverbesserungspotential ausweisen zu wollen, wäre gänzlich falsch, zu naiv gegriffen. Womit man bei der immerwährenden Frage landet: Wie politisch ist, kann, soll Kunst sein? Das ist die Überleitung zum eigentlichen Geschehensfokus, dem musikalischen.

Georg Graewes Ästhetik versteht sich wohl in keinster Weise als ausgewiesen politisch und ist schon gar nicht von pamphletischen Manifesten begleitet. Doch sie steht im Widerstreit zu einsilbigem Konservativismus und Ignoranz, pflegt einen demokratischen Wesenskern, einen individuellen Schaffenswillen. Natürlich steht Graewe als Komponist/Konzeptualist, Impulsgeber, Auslöser an exponierter Stelle, der seine Entwürfe umgesetzt hören will. Hier ist ein entscheidender Punkt erreicht. Sein Standpunkt ist klar: unbedingter kreativer Exchange mit den handverlesenen, ebenso kommunikativen MusikerInnen, wahrhaftige Arbeit, aufrichtige Begeisterung, Engagement für das Tun. Auf welch hohem Level all das zur Disposition steht und in welch beständigem Ausmaß die musikalische wie interagierende Unität gewachsen ist, davon legte das vorletzte Stageband-Kapitel  beredtes Zeugnis ab. Für den ersten Überraschungsmoment sorgte die Integration eines Cembalos, gespielt von der Alte Musik-Spezialistin Anne Marie Dragosits. Frei blieben die Plätze der Geigerin und des Posaunisten. Ausgetüftelt gesetzte Tonkunst und frei requirierte Tonkunst, wobei es diesmal eine Gewichtungsverschiebung zugunsten zweiterer gab, sind kaum sich bedingender in Bezug zu setzten. Die ad hoc kreierten Klangbiotope in den Konstellationen Duos, Trios, Quartette wucherten abermals üppig. Betreffend Konsistenzen gespannt von feingliedrigen Verästelungen, blendend in Call & Response-Sequenzen von Klavier und Cembalo bzw. Wechselreden zwischen Cembalo und E-Gitarre oder Cello, Klarinette, Harfe entworfen, bis zu überwältigenden, energetischen Entladungen, die vor allem den Kombinationen Gitarre, Bass, Schlagzeug und Piano, Bass, Schlagzeug meisterlich von der Hand gingen. Alles differenziert aufgebaut, vertikal und horizontal offen verlaufend, mit den Ohren stets an der Gesamtarchitektur. Die lenkt Graewe unaufdringlich, mit enormer Sensibilität von Piano aus mit freitonalen Gesten oder dirigierend mit determinierten, nach seriellen Prinzipien funktionierenden Texturen. Nuancenreichtum führt der Komponist durch findiges Changieren zwischen krauser Flächigkeit und punktueller Artikulation herbei. Aufs Neue in Erstaunen versetzte, welche Möglichkeiten an Klangfarben- und qualitäten, Funktionalem die Konzeption zulässt. Graewe baut auf die Innovationskraft des Jazz, komponierter Musik, von progressivem Rock. Mit eben prädestinierten MusikerInnen. Das heißt, dass die überbauende, abstrakte Struktur sich phasenweise in swingenden, Straight Forward-Jazzduktus aber auch hintergründigen Rockgroove mit Hingabe stürzen kann. Graewes musikalische Explikation benötigt keine weiteren Erläuterungen mehr. Sie verlautbart künstlerische Wegweisungen, in ihrem Entstehungsprozess, zweifellos so auslegbar, sozialpolitische Denkanstöße. Die derzeit vielleicht wunderbarsten Gegentöne.