25. Oktober 2020
Von Hannes Schweiger

MO 19. Oktober 2020
Zeitmaß-Kompetenzen
WOLFGANG REISINGER “TIME NO TIME”
Wolfgang Reisinger (dr, perc, electronics), Mario Rom (tp), Christian Weber (b)

Abermals muss leider das Thema “Covid” bemüht werden. Das erstklassige Quartett das „Time Manager“ Wolfgang Reisinger zusammengetrommelt hat, musste demzufolge eine Auszeit nehmen. Sebi Tramontana, Posaunist des Ensembles, konnte pandemiebedingt aus seinem Wohnort München nicht anreisen. Zeitgerecht reagiert, haute man zu dritt auf den Putz. Angesicht dessen finden nur einige wenige Materialvorgaben Einzug in den Schöpfungsprozess. Angezapft wird  primär die Magie der freien Improvisation. Musikerfindung auf dieser Ebene praktizieren die drei Kapazunder sowieso mit größter Leidenschaft. Generell durchzieht ein kontemplativer Grundcharakter die Interaktionen. Das lässt einen klangfarbenintensiven Lyrismus folgen. Doch der ist krude und schroff und treibt in abstrakten Klangnetzwerken. Deren Fäden laufen im nuancierten Schlagzeugspiel, das Reisingers auf einem äußerst fein abgestimmten Instrumentarium verteilt, zusammen. Er  bringt ein rhythmisches Pattern ins Spiel, unmittelbar darauf seziert er dieses, zieht die Essenz daraus als perkussive Kolorierung. Nimmt einen Groove auf, befreit ihn aus seiner Funktionalität, um im nächsten Moment einen rhythmischen Kehrwert einzubringen. Um größtmöglichen Raum für sich und seine Mitmusiker zu haben, agiert Reisinger in Zeitzonen ungebundener Metrik bzw. zaubert mit deren schwingender Elastizität. Hudeln dabei ist der Musiker Sache nicht. Zeitlassen steht als Maxime an. Transparenz ist ein weiteres A und O der Architektur.

Christian Weber, zentrale Figur der Schweizer Jazz-Avantgarde und einer ihrer spielauffälligsten Bassisten, befördert das Konstrukt mit einem feinen Netzwerk indeterminierter Klänge in allen Registern. Und an entscheidender Stelle trifft er zur Pulseinheit mit dem Schlagzeug zusammen. Wie das Herz der Musik dann schlägt! Darauf reagiert unverhohlen, die Sensoren immer empfangsbereit, der genialistische Mario Rom, einen weiteren Trompeter der in diesen Sphären spielt sucht man zurzeit vergebens. Mühelos lotet er jeden Winkel seines Instrumentes aus. Luftströme verwandeln sich in surrealistische Melodiegebilde. Fauch-, Zisch-, Pressklänge, teils zirkularbeatmet, fluoreszieren in kontrastierender Schönheit zu den Strahltönen. Freiheit und Genauigkeit, Impulsivität und Behutsamkeit, sich in der Waage befindend, entwachsen dem entscheidenden Umstand der Konzentriertheit der Absichten. Der Brennpunkt wird von den Musikern unentwegt auf scharf gestellt. Abseits jeglicher Effekthascherei, Vorzeigeattitüde, Routinehandgriffe. Improvisierte Musik von zwingender Wahrhaftigkeit und mit ganz persönlicher Note. Nicht zu überhören: Der lineare Zeitausdehnungskoeffizient impliziert eine sich reziprok verhaltende Affinität zur Summe der Schallwellen. Wir hatten alle eine gute Zeit.