7. November 2016
Von Hannes Schweiger

SA 5. & SO 6. NOVEMBER 2016
Die beglückende Leichtigkeit der Komplexität
John Zorn „Bagatelles-Marathon“

Manchmal fügen sich die Umstände wie von geheimnisvollen Energien gelenkt. So geschehen im Bezug auf das Gastspiel des Ausnahmemusikers John Zorn mit seiner Werkschau im „Jazzclub exzeptionell“. Alleine deshalb stellen diese beiden Abende schon etwas Außergewöhnliches dar, da Zorn schon seit langem von Club-Konzerten Abstand genommen hat. Nachdem also der Veranstalter in Mailand das Konzert stornierte, sprang nach Anfrage ohne lange Überlegung, wiewohl schon seit einiger Zeit Kontakt zu John Zorn besteht, Porgy-Mastermind Christoph Huber in die Presche und offerierte seine Zusage die beiden Abende auf die Bühne des Clubs zu bringen. Dem Vernehmen nach wurde dies wohlwollend angenommen. Folglich leistete das gesamte Porgy-Team angesichts der Kurzfristigkeit und des enormen Aufwandes, fünf Acts pro Abend, 25 MusikerInnen und, und, und Außerordentliches.

Zorn, der in den 1980er Jahren in der aufkeimenden New Yorker Noise Music-Szene groß wurde und sich binnen kürzester Zeit als deren Gallionsfigur respektive hyperaktiver Katalysator etablierte, empfahl sich mit seinen visionären wie radikalen Klangvorstellungen, die nach einem cut-and-paste Prinzip, speziell Filmmusik hat diesbezüglich prägende Spuren hinterlassen, in pluralistischer Herangehensweise funktionieren und sich in einem „High Speed Soundnet“ verdichten, als quasi letzter herausragender Innovator im Jazzumfeld des letzten Drittels des 20.Jahrhunderts. Obschon, wie im Folgenden bewiesen, sich Zorn kein Stiletikett umhängen lässt. Zu obsessiv ist sein Interesse an der Musik und eben des letzten Jahrhunderts, mit all seinen stilistischen Schattierungen, im speziellen. Zorn hat als Komponist eine Art „Ganzheitsmusik“ entwickelt, in der seine Fähigkeit sich jedweder Stilistik, ob nun Blues, Jazz, Rock, Neue Musik (in diversesten avancierten Ausformungen), Ambiente, Elektronik oder Sonstiges annehmen und mit eigener Handschrift ausführen zu können, legitimiert ist. Zudem ist er zu einem begnadeten Improvisator bzw. originellen Altsaxophonisten gereift, für den die Textur, das Timbre, blitzschnelle Brüche eine bevorzugte Stellung einnehmen. 

In seinen Bagatellen, die bei diesem aktuellen Projekt im Mittelpunkt stehen, verdichten sich erneut all diese zornschen Eigenheiten zu fabulösen, hochkomplexen Kleinoden. Zorn hat aus seiner 300 Stücke umfassenden Bagatellensammlung ausgewählt und sie zehn Ensembles und einem Überraschungsgast überantwortet. Fünf Ensembles pro Abend, jedem waren ca. zwanzig Minuten Spielzeit zugedacht, setzten die komprimierten „Zornausbrüche“ in Szene. Zwischen den einzelnen Sets, in perfekt organisiertem Ablauf, fungierte Zorn als charmanter, strahlender MC. Opener des ersten Abends war der Meister selbst mit seinem schon legendären Quartett MASADA (Zorn-as, Dave Douglas-tp, Greg Cohen-b, Joey Baron-dr). Peitschende Up-Tempo Sequenzen in einem schräg gestellten Neo-Bop Raster verankert, gespickt mit bravourösen, hitzigen Soli, atemberaubenden Bläser-Tutti und verwinkelten Unisono-Passagen, reihten sich eine an die andere. Der Funke war gezündet. Die beiden stupenden Gitarristen GYAN RILEY (Sohn der Minimal Music-Ikone Terry Riley) und JULIAN LAGE realisierten auf ihren akustischen Instrumenten filigrane Netzwerke, in die klassische, folkloristische, jazztraditionelle Klangeindrücke eingewoben waren. Irisierende poetische Silhouetten waren das Ergebnis. THE NOVA QUARTET (John Medeski-p, Kenny Wollesen-vibes, Trevor Dunn-b, Joey Baron-dr) in der Ankündigung so treffend als „Modern Jazz Quartet on Acid“ angekündigt, blieben der Ankündigung nichts schuldig. Die Stücke waren in komplexe Arrangements verpackt und großteils ebenfalls in höllischem Tempo, welches in Händen und Füßen des großartigen Baron lag, zu spielen. Die musikalische Bezugsquelle war der Hard Bop, auf zornsche Weise transformiert. Bravourös und mit rauschhaftem Spielwitz, herausragend Wollesen am Vibraphon, schritten die Musiker zur kongenialen Umsetzung. Ein wahres kammermusikalisches Kleinod mit funkelndem Feinschliff, diesmal im Moderato angesiedelt, durchzogen von kristallinen Geweben, verschachtelt und gegenläufig angeordnet , entließen in einzigartiger Korrespondenz SYLVIE COURVOISIER (p) und MARK FELDMAN(v) in den Äther. Den vermeintlichen Schlusspunkt setzte die aus drei energiestrotzenden Twens formierte Avantrock-Band TRIGGER (Will Greene-g, Simon Hanes-b, Aaron Edgcomb-dr). Dieser Impulsivität und Leidenschaft geschuldet konstruierte Zorn eine brachial dahinpreschende, vertrackt verlaufende, mit bestimmendem rüden Rockappeal angereicherte Textur. Bis an die Ränder der Tonalität gedehnt, immer wieder mit Noiseattacken aufgebrochen. Mit unglaublich hohem instrumentaltechnischen Können und einer Entspanntheit sondergleichen rasten die Boys durch die diffizilen Stücke, bei denen man den Finger immer am Abzug haben muss. Das Adrenalin war am Anschlag und dann die Überraschung. Die letztendliche Schlusskadenz perlte aus den geschmeidig dahingleitenden Fingern des großartigen Pianisten CRAIG TABORN. Er vertonte in einem Piano-Recital sinnhaft ineinandergreifende lyrische Arpeggien und melodische Schlichtheit mit aufbrausenden Clusterhäufungen. Das mündete zum schlüssigen Ausklang des Abends in eine stoische Klangfläche die Räume öffnete. 

Der Zweite Abend wurde gleich wieder mit einem martialischen Klangfurioso eingeläutet. Durch das bestens eingestellte JOHN MEDESKI TRIO (Medeski-p, Dave Fiuczynski-g, Calvin Weston-dr). Diese Bagatellen vermittelten eine Affinität zum großen Tony Williams und seiner stilbildenden Band Lifetime. Zorn nahm eine irrwitzig meandernde Verortung dieses Klangkosmos im Heute vor. Enorm bereichernd für die Musik waren der massive Gruppensound und die solistischen Gustohappen. Wieder ging die Performance mit einer genüsslichen Leichtigkeit von statten. In eine eher kontemplative Handlung waren die beiden Cellisten ERIC FRIEDLANDER und JAY CAMPBELL integriert. Eine namhafte Koryphäe und ein junger Meister subsumierten in ihrer Konversation filigrane Klanginseln, in denen auch simpler Schönklang aufleuchtete, zu, zwischen bizarrer Abstraktion und verspielter Eleganz pendelnden Kraftkammer-Sketches. Diesen folgte ein grandioses Set des URI CAINE TRIOs (Caine-p, Mark Helias-b, Clarence Penn-dr). Als Basis diente auch hier eine unorthodoxe, weitergedachte Auseinandersetzung mit der jüngeren Jazzgeschichte. Tradierte Changes wurden in einem irrwitzigen Tempo auf den Kopf gestellt, respektvoll interpretiert und mit jeder Menge Raum für humoreske Floskeln, auch ein unpeinliches Mozart-Zitat oder bekannte Filmmusikzitate durfte sein, neu modelliert und mit Frischzellen versehen. Einmal in der Symmetrie, im nächsten Moment aber schon wieder in Schräglage. IKU MORI(electronics), ebenso eine zentrale Figur der ersten Stunde der Noise-Bewegung, stellte sich der immensen Herausforderung alleine mit artifiziellen und gesampelten Sounds Musik von Dringlichkeit und packendem Spannungsgrad abzurufen. Über immer wiederkehrenden ostinaten Figuren schichtete sie einerseits konkrete Klangpartikel, andererseits verfremdete oder computergenerierte Soundkonglomerate, denen durch die rhythmische Periodizität eine tänzelnde Makrostruktur eigen war. Es funktionierte insofern nicht gänzlich, da es an Lautstärkeintensität fehlte. Das Finale Grande, dieser beiden exzeptionellen Abende, richtete eine Trio um den Gitarrenhexer Marc Ribot mit dem Namen ASMODEUS aus. Ihm zur Seite saßen, so auch er, Trevor Dunn (el-b) und Kenny Grohowski (dr). Meister Zorn betrat ein zweites Mal aktiv die Bühne um die begnadeten Virtuosen mit Dirigaten durch die Stücke zu treiben. In diesen klangberstenden „Kleinigkeiten“ erreichte Zorn die Kulmination der Komplexität. Klangblöcke bauten sich auf, besaßen aber eine erstaunliche Transparenz und eine kaum zu glaubende rhythmische Elastizität. Auch brachen immer wieder die metrischen Stränge auf und das harmonische Gefüge wurde in der Atonalität zerstäubt. Dann kehrten wieder knochentrockene Beats in absurden Off-Beat Abfolgen und Takten und krachende Monsterriffs zurück. Zorn zog auf dem quasi Meta-Instrument alle Register. 

Mit dem Bagatelles Marathon, der durch seine geschickte dramaturgische Inszenierung nie überfordernd war, sonder durch eine, die Aufmerksamkeit durchgehend aufrechterhaltende Kurzweiligkeit bestimmt war, manifestiert der Perfektionist Zorn wie absolutistische stilistische Kategorisierungen in der zeitgenössischen Musik ausgehebelt werden können, obschon er das Ohr zu einem wesentlichen Teil am Jazz hat, doch das sichert ihm seine Freigeistigkeit, wie die Umsetzung kompositorischer Vorgaben über stures Interpretieren hinaus gehen kann, das Klanghäufungen nicht zu indifferenter Massigkeit führen müssen. Und er brachte die Kunst der Kontrapunktik anhand von Stilen, in bestem bachschen Sinne zu Gehör. Dass ihm das so eindrucksvoll gelingt liegt darin begründet, dass Zorn ein tiefgründig in den Nukleus jeglicher Musik eindringender Virtuose ist und die für ihn notwendige Essenz herauszufiltern im Stande ist. Beeindruckend zu hören wie Virtuosität sowohl seitens des Komponisten als auch der MusikerInnen nicht in inhaltsleere Vordergründigkeit verfällt, sondern die Musik beflügelt. Hinzu kommt noch Zorns Gabe die Substanz der musikalischen Aussage in kurzer Zeit eindampfen zu können und wie die AkteurInnen im Bruchteil einer Sekunde am Punkt sind. Nach wie vor polarisiert er, was ebenso für seine Qualität spricht.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, einer marathonschen, publikumstechnisch reichlichst gesäumten Sternstunde beigewohnt zu haben. Wien war für zwei Abende extrem modern. Großen Dank dem Verantwortlichen der dies ermöglicht hat, dass darf auch einmal gesagt sein.