SO 23.April 2017
Traumsequenzen in Audiocolor
CHRIS POTTER QUARTET
Chris Potter (ts, ss), David Virelles (p), Joe Martin (b), Nasheet Waits (dr)
„The Dreamer Is The Dream“ nennt Chris Potter seine jüngste Stückesammlung. Diese ist mittlerweile auch auf Tonträger gebannt worden und beim Label ECM erschienen. Die Wissenschaft spricht vom Traum als einer Bezeichnung für Phantasieerlebnisse vorwiegend optischer wie akustischer Art. In der Psychoanalyse nimmt die Traumforschung ja eine bedeutsame Stellung ein. Ein hoher Grad an Emotionalität und assoziativem Denken wird dem Traum ebenso bescheinigt. Ganz so analytisch legt Potter die Thematik nicht an. Und hier sind wir schon bei den Analogien zu Potters Musik und seinem aktuellen Quartett, welches sich während dieser zweieinhalb Stunden in eine atemberaubende Spielobsession verstieg. Mit dieser einher ging eine exzeptionelle Strahlkraft, ein nicht minderer Energieausstoß gebündelt auf engverzahntestem Kommunikationslevel. Situiert wurde jener in einem weitläufigen modalen, rhythmisch periodisch definierten Aktionsfeld, welches die Band in extrem homogenen Gefügezustand umfassend durchkämmte. Jedes seiner Mitglieder ein virtuos originärer Stilist, setzte mit viel Feinsinn dennoch immer wieder überraschende atonale Ausreißer, die sich jedoch nie verselbständigten, sondern vielmehr das Spannungsfluidum anfachten. So hochkomplex und atemberaubend ereignishaft bzw. dynamisch wie agogisch wandlungsfähig sich diese Tonkunst in ihren improvisierten Aggregatzuständen darbot, so eingängig geradlinig offerierten sich die gliedernden, als Grundstock dienenden Themenkomplexe aus der Feder des Leaders. Dessen Spiel, von muskulösem Ton gepusht, einen weiteren prägenden, aber keineswegs egozentriert angelegten Faktor darstellte. Seine musikalische Sozialisation, wie etwa Lester Youngs elegante Geschmeidigkeit, Rollins Motivik, die er allerdings noch kantiger phrasiert, die Erdigkeit Dewey Redmans oder Coltranes glühende Klangströme, alles unverkennbar individuell adaptiert, ließ Potter substantiell durchklingen. Ebenso die Fähigkeit, in seinen phonetischen Visionen bravourös Schranken zwischen tonal gebundenen Entwicklungen der BeBop-Linie und den Grenzüberschreitungen der Jazz-Avantgarde zerbröseln zu lassen. Potter ist sicher einer der komplettesten Saxophonisten unserer Zeit, der mit verblüffender Unangestrengtheit aus einem riesigen melodischen Fundus schöpft und mit stuppender Imaginationskraft auftrumpft. Besonders signifikant erklang dies während eines frenetischen Dialoges zwischen Potter und Schlagzeuger Waits. Letztgenannter brillierte mit einem polyrhythmischen Netzwerk, welches den „Elvin Jonesschen-Nachlass“ konsequent wie kaum ein zweites Mal, weiterführt und ausdifferenziert. Waits zog rhythmische Überlagerungen noch engmaschiger und zerlegte zyklische Akzentuierungen mit fließendem Selbstverständnis. Die beiden anderen tragenden Säulen dieser Band waren der famose Pianist David Virelles, Meister der Aussparungen und harmonischer Extravaganzen, die er mit Salsa-Zitaten und tayloresken Kapriolen unterfütterte. Auch aus ihm sprudelten die Ideen, die er in einem grenzgenialen Trio Spot kulminieren ließ, und der souveräne Gelassenheit und Umsichtigkeit ausstrahlende Bassist Joe Martin, der die ummantelnde „Raumausstattung“ seismographisch in das Getöne pflanzte. Neben dem Quartett Branford Marsalis´ ist jenes Potters´ das profundeste welches den Impetus des epochalen Coltrane Quartetts im Hier und Jetzt ausformuliert. Dreaming with some Masters.