2. Dezember 2019
Von Hannes Schweiger

Fokale Klangkörperschaft - Generationenlabor
CHRISTIAN MUTHSPIEL & ORJAZZTRA VIENNA
Vorspann: ORJAZZTRA Piccola – CHUFFDRONE
Lisa Hofmaninger (ss, bcl), Robert Schröck (as), Jul Dillier (p), Judith Ferstl (b), Judith Schwarz (dr, perc)
ORJAZZTRA VIENNA
Lisa Hofmanninger, Astrid Wiesinger, Ilse Riedler, Gerald Preinfalk, Robert Unterköfler, Florian Bauer (reeds), Gerhard Ornig, Dominik Fuss, Lorenz Raab, Alois Eberl, Daniel Holzleitner, Tobias Ennemoser (brass), Philipp Nykrin (p), Beate Wiesinger (e-b), Judith Ferstl (acc-b), Judith Schwarz, Marton Juhasz (dr, perc), Christian Muthspiel (cond, composition, musical director)

Die Begrifflichkeit Orchester leitet sich aus dem griechischen orchestra = „Tanzplatz“ her. Und in der jüngsten (im wahrsten Sinne des Wortes) Vermessung seines musikalischen Schaffensraumes tanzen die Töne, Klänge, Ideen wie verrückt. Im Großformat. Christian Muthspiel, unangefochtene österreichische Jazz-Zentralfigur mit entgrenzter Bedeutung als Improvisator, Komponist, Dirigent der Metiers Jazz und Klassik, hat nach Jahrzehnten der Musikerkundungen in kleinen wie großen Ensembleumgebungen und speziell angeregt von den Begegnungen mit orchestralem Format im Klassikbereich, eine unaufhörlich in ihm gärende Vision in die Tat umgesetzt. Er hat den „Planeten Jazz-Orchester“ betreten. Dort hat Muthspiel seinen Aktionsbereich, gemäß einem weiteren wichtigen seiner Anliegen, mit jungen Kreativbegabungen (zwei, drei etablierte ältere Semester sind ebenso involviert) der hochqualifizierten Jazzszene hierzulande bevölkert. Kollektiviert unter dem originellen Namen ORJAZZTRA. Als Folge entstand auch die weitsichtige Konzeptionsidee, die aktuelle saisonale Stageband-Serie mit einer Intrada durch eine inländische „New Generation“-Band anzufeuern – Titel: OrJazzTra Piccola. Zur Eröffnung der Eröffnung trumpfte schon einmal das Quintett CHUFFDRONE auf. Eine Formation mit bereits großem Nachhall. In sehr kristallinen Durchdringungen vollziehen sich die strukturellen Aufbauten ihrer Musik aus den Elementarteilen Komposition und Improvisation. Labyrinthisch ist das unorthodoxe Netzwerk. Fraktal die harmonisch, rhythmische Beschaffenheit, die aber nie auf melodische Direktheit vergisst. Schon gar nicht in den solistischen Klangreden der MusikerInnen. Ganz starke Fantasie in modaler Diktion, notwendige Ausritte einfordernd, kommt hier ins Spiel. Jede(r) sich der keimenden Eigenheit bewusst. Gruppendynamische Kohärenz bleibt stets die Umhüllende. Jazzverwurzelt, aber mit Trieben in avancierte Stilregionen andernorts. Vergnüglichst gebrummt, Leute. The young power is erupting.

Groß, wie das Orjazztra davon genährt wird. Da bedarf es weiters eines Meisters der dieses Potential zu bündeln versteht. Muthspiel muss dies nicht beweisen, er bringt es zur Blüte. Persönlichst. Schon die Besetzung zeigt, dass er einen nicht normierten Weg eingeschlagen hat. Rhythmisch, harmonisch, formal  individuell schlussfolgernd von tradierten Big Band Schemata losgeeist. Er hat einen musikalischen Korpus ersonnen, anhand dessen er auf die Vorlieben, die Mentalität jedes Orchestermitgliedes bedacht nimmt. Einhellig die Balance zwischen Spontanem und Fixiertem. Ersteres spannte einen Bogen von überbordend Energetischem, durchdacht entfaltet, wie bei den „Wiesinger Sisters“ oder weitgefassten Skalendurchschreitungen, Changesdeutungen beispielsweise von Gerhard Ornig, Alois Eberl, Lisa Hofmaninger oder Philipp Nykrin. Kompositorisch, arrangementtechnisch verfolgt Muthspiel einen Dialog des Differenten. Seine Voicings strotzen vor Eigenheiten. Parallele Strukturverläufe, kontrapunktische Wucherungen, flexibel kalkulierter Wildwuchs bilden eine Synthese konkret von einander abgegrenzter aber doch eng korrespondierender Fragmente. Detailreiche Binnenstrukturen künden unentwegt von Klangfarbenneuausrichtungen. Gleichlautend die Texturen im Erklingen der Wechselwirkungen zwischen undurchlässigen, lautstarken Klangblöcken, filigraner Poitilistik von eher spannungsvoller Trockenheit und verspielt abstrakter Flächigkeit. Schwebende Komplexität der Architektur, der in keiner Sekunde Verbohrtheit oder Selbstzweck anhaftet. Deren Vielgestaltigkeit bewirkte glühende Begeisterung im Ensemble. Davor positioniert Muthspiel, körperhaftes Dirigat praktizierend. Er stand unter Strom. Er leitete nicht nur enthusiastisch sondern verleitete seine PartnerInnen zu wirkmächtigen Improvisationen.

Instruiert zusätzlich von außerordentlich elastischen Bewegungsmustern, die sich u.a. in „swinging affairs“, rockigem Punch, metrischen „Ordnungswidrigkeiten“ entluden. Worauf Muthspiel sein Orchester-Konzept fußen lässt, ist die Jazz-Genese. Anknüpfend an wegweisende Schritte solch orchestraler Reformatoren: Gil Evans, George Russel, Carla Bley, mathias rüegg, Christoph Cech. Der Komponist/Konzeptionist bezieht unweigerlich sein eigens Refugium. Eingeläutet mit einer Signation, nach den wahrlich gelungen klingenden Kennungen für Ö1, die mittlerweile, allen Unkenrufen zum Trotz, in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, mit der ein neuerlich relevantes Kapitel betreffend Kanon Jazzorchester aufgeschlagen wird. Trotz aller Raffinessen, Verschachtelungen, komplizierter Strukturen  hat der „Klangerzähler“ Muthspiel eine in Verbindung zum Leben (im speziellem natürlich zu seinem) stehende, selbstverständlich fließende Klangwelt enthüllt. Zusammen mit einer fantastischen ExpertInnengruppe. Man wird noch OhRen machen.

Lieber Christian Muthspiel ein Wehrmutstropfen sei schmunzelnd anzumerken erlaubt: Die Schlagzeuge waren von einem Feature ausgenommen.