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Zur Situation des Jazz in Wien am Beispiel des Porgy & Bess ‒ Durchwegs subjektive Anmerkungen zu einem globalen musikalischen Phänomen, dessen Wahrnehmung und Entwicklung in Wien etwas anders verlief als in vergleichbaren europäischen Metropolen, schlussendlich aber trotzdem in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.
Ich ging 1988 zum Studium nach Wien, auch weil ich aus meinem provinziellen saalfeldnerischen Umfeld ausbrechen wollte. Die Ernüchterung folgte freilich auf dem Fuß. In Saalfelden gab es seit Ende der 1970er Jahre ein internationales Jazzfestival und regelmäßige Jazzkonzerte im Club. In Wien gab es das „Jazzland“, dass sich mit traditionellen Jazzformen wie Dixieland und Swing beschäftigte, und die „Jazzspelunke“, die einstmals eine wichtige Anlaufstelle für zeitgenössische Jazzmusiker war, Anfang der 1990er Jahre allerdings ihre Pforten schloss. Innovative, zeitgenössische, jazzaffine Konzerte fanden in dieser Zeit nur in homöopathischen Dosen an unterschiedlichen Orten wie im „WUK“, im „Opus One“, im „B-A-C-H“ oder in der „Szene Wien“ statt.
Das war nicht immer so gewesen: Nach dem 2. Weltkrieg gab es, auch aufgrund der Aktivitäten vor allem der amerikanischen Besatzungsmacht, eine Art Aufbruchsstimmung. Es entstanden Clubs wie der „Strohkoffer“, das Vereinslokal des „Wiener Art Clubs“ (eine Künstlervereinigung um Albert Paris Gütersloh mit den „jungen Wilden“ Arnulf Rainer, Friedensreich Hundertwasser, Josef Mikl). Tagsüber Galerie, des nächtens „Begegnungszone“ für Leute wie H. C. Artmann, Friedrich Gulda oder Joe Zawinul. Interdisziplinär, würde man heute sagen. Die „Adebar“ in der Annagasse war ein Ort des Experiments, und schließlich auch „Fatty’s Saloon“ am Petersplatz, der 1963 schließen musste, 1980 zwar wiedereröffnete, allerdings ohne wirtschaftlichen Erfolg. Fast alle kreativen Musiker verließen Wien: Hans Koller, Joe Zawinul, Attila Zoller, Fritz Pauer, Roland Kovac, Fatty George, um nur einige zu nennen. Sie verließen Wien, weil die Nachkriegssituation kaum innovative Entwicklungen zuließ bzw. kreative Künstler sich in der konservativen Grundstimmung geradezu eingesperrt fühlten. Sie fühlten sich unverstanden und unerwünscht. Bedenkt man, dass nach der Proklamierung der 2. Republik keine ernsthaften Versuche unternommen wurden, vor dem Krieg hinauskomplimentierte Komponisten wie Arnold Schönberg, Ernst Krenek oder Erich Wolfgang Korngold wieder zurückzuholen bzw. nach Wien einzuladen, dann kann man sich diese latente Grundstimmung wohl gut vorstellen.
In Paris beispielsweise war die Situation durchaus anders: Die Intellektuellen um Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Albert Camus, Boris Vian (selbst ein Jazztrompeter!) haben die innovatorische Kraft dieser Musik instinktiv erkannt und als solche wahrgenommen, was dazu führte, dass trotz Sprachschwierigkeiten Musiker wie Miles Davis zum engeren Freundeskreis von Sartre zählten. Etliche amerikanische Musiker ließen sich in den 1950er und 1960er Jahren in Paris nieder: Kenny Clarke, Bud Powell, Kenny Drew, Don Byas, Stan Getz, Booker Ervin, Ben Webster, Pony Poindexter oder Johnny Griffin. Auch in Kopenhagen oder Stockholm herrschte ein viel respektvolleres Klima Jazzmusikern gegenüber als in Wien ‒ und natürlich auch ganz andere Verdienstmöglichkeiten.
Zurück nach Wien: Eine wichtige integrative Figur, die zur gesellschaftlichen Akzeptanz des Jazz in dieser Stadt beitrug, war Friedrich Gulda, der in den mittleren 1960er Jahren Jazzwettbewerbe im Konzerthaus ausrichtete, was zum Beispiel Musiker wie der ostdeutsche Pianist Joachim Kühn oder der tschechische Bassist Miroslav Vitous (der später mit Zawinul Gründungsmitglied der Formation „Weather Report“ war), nutzten, um sich in den Westen abzusetzen und dort ihre internationale Karriere zu starten. Wobei das Wort „gesellschaftliche Akzeptanz“ etwas übertrieben ist. Die Leute liebten Gulda für seine Mozart- und Beethoven-Interpretationen und duldeten bzw. ertrugen die Ausflüge des Meisters in den Jazz. Bezeichnend auch, dass Gulda ausgerechnet im kärntnerischen Viktring die Möglichkeit hatte, die von ihm angestrebte Aufhebung der Grenzen zwischen E- und U-Musik bzw. die Verschmelzung der Klassik mit dem Jazz zu zelebrieren, indem er ab 1973 im Rahmen des Musikforums Konzerte und Workshops ebendort organisierte und abhielt.
Die vom Grazer Posaunisten Erich Kleinschuster gegründete und bis zur Auflösung 1981 geleitete ORF Big Band veranlasste Musiker wie den Trompeter Art Farmer oder den Bassisten Jimmy Woode, nach Wien zu übersiedeln, was der Stadt zumindest ein Minimum von internationalem Flair verlieh.
Und dann ist da natürlich das vom Schweizer Komponisten Mathias Rüegg Ende der 1970er Jahre gegründete und bis 2010 bestehende „Vienna Art Orchestra“ zu nennen, eine international besetzte Formation, die auch international reüssierte und die für eine musikalische Frischzellenkur sorgte und Leute wie Harry Sokal oder Wolfgang Puschnig hervorbrachte, die wiederum über die Landesgrenzen hinweg Bekanntheit erlangten.
Interessanterweise entwickelten sich in den mittleren und späteren 1970er und frühen 1980er Jahren avancierte Jazz-Aktivitäten außerhalb der Bundeshauptstadt. Viktring wurde bereits erwähnt. Das Jazzfest im burgenländischen Wiesen war ein Vorreiter in Sachen Präsentation von aktuellem Jazz vor einem größeren Publikum. Das Jazzfest Saalfelden war viele Jahre lang so etwas wie ein Trendsetter in Bezug auf innovatorische Projektentwicklungen, und die internationale Avantgarde spielte bei den „Konfrontationen“ in der Jazzgalerie Nickelsdorf oder beim „Kaleidophon“ im oberösterreichischen Ulrichsberg.
Natürlich gab es auch in Wien bemerkenswerte Jazzaktivitäten. Miles Davis spielte hier, John Coltrane, Louis Armstrong, Ella Fitzgerald, Lionel Hampton, Jimmy Giuffre, Cannonball Adderley und viele mehr. Diese Konzerte waren aber singulär, also nicht in einen kulturellen Gesamtkontext eingebunden. Große Namen spielten in der Stadthalle oder im Konzerthaus, aber halt nur „zu allen heiligen Zeiten“. Erst ab 1991 gab es auch in Wien ein jährliches Jazzfestival.
Der heimischen Szene blieb nur die Möglichkeit, in mehr oder weniger geeigneten alternativen Räumlichkeiten auf Eintritt zu spielen, wenn der für diese Räumlichkeiten gastronomisch Verantwortliche dies halt zuließ.
Aus diesem Hintergrund heraus wurde 1993 das Porgy & Bess gegründet. Es gab damals einfach keine professionelle kontinuierliche Betätigungsmöglichkeit für zeitgenössische Jazzmusiker mit adäquater Bezahlung! Es fehlte an einer Spielstätte mit Werkstattcharakter, einem Ort des Austausches und des Dialogs.
Im September dieses Jahres realisierte der schon erwähnte Mathias Rüegg gemeinsam mit Gabriele Mazic eine Serie von Konzerten österreichischer und Schweizer Musiker in der ehemaligen Fledermaus-Bar in der Spiegelgasse als sogenannten „Jazzherbst“ und nannte das Lokal P&B. Hauptsächlich unterstützt wurde dieser Konzertreigen von der schweizerischen Urheberrechtsgesellschaft Pro Helvetia.
Im Laufe dieser Serie reifte natürlich die Idee, nach dem Jazzherbst einen kontinuierlichen Clubbetrieb zu etablieren. Da fand Rüegg mit dem in Wien lebenden deutschen Musiker und Veranstalter (z. B.: Kulturspektakel) Renald Deppe und meiner Wenigkeit Mitstreiter, und so wurde im Spätherbst der Verein Jazz & Musicclub Porgy & Bess gegründet. Wir reichten ein Konzept bei der Stadt Wien und beim Bundeskanzleramt ein. Die Kulturpolitik wollte aber den Club nicht so einfach unterstützen, wahrscheinlich auch deswegen, weil sie gar nicht so sehr an einer nachhaltigen Entwicklung in unserem Bereich interessiert war bzw. dem Potenzial der österreichischen Jazzszene überhaupt skeptisch gegenüberstand. Auch gab es bis dahin keinen Jazzclub in Österreich, der öffentliches Geld erhielt. Aber – und das sei positiv vermerkt – die Kulturpolitik ließ mit sich reden!
Es begann ein Pingpong-Spiel: Die Stadt Wien signalisierte, uns unterstützen zu wollen, wenn die Kunstsektion des Bundeskanzleramtes dies auch garantiere. Und vice versa. Schlussendlich gewannen wir das Spiel, hauptsächlich, weil ein damaliger Kulturberater der Stadträtin Ursula Pasterk meinte, dass das Projekt unterstützt werden sollte, um ein Zeichen zu setzen, und das P&B spätestens nach einem Jahr mangels Interesse sowieso zum Scheitern verurteilt sein würde. Da haben sie sich aber geirrt und den sprichwörtlichen Stein ins Rollen gebracht.
Ab dem 4. Januar 1994 etablierten wir also unsere Vorstellungen eines modernen Jazzclubs mit täglichem Programm nach unseren inhaltlichen Vorstellungen: mit einem pluralistischen Programmkonzert mit unterschiedlichen musikalischen Schienen, die es auch ermöglichten, dass heimische Musiker mit internationalen Kollegen zusammenarbeiten konnten, im Rahmen einer professionellen Infrastruktur und mit garantierten Gagen. Glücklicherweise stellte sich heraus, dass die Fledermaus-Bar eine exzellente Akustik für verstärkte Musik hatte und es aus unerklärbaren Gründen ausreichte, eine Metalltür zu schließen und somit keine Anrainer lärmtechnisch zu belästigen.
Nach einem schwierigen Start (anfangs waren die Konzerte sehr überschaubar besucht) setzte sich unser Konzept aber langsam durch bzw. überzeugte ein interessiertes Publikum. Das P&B wurde zum „meeting point“ der Szene und beheimatete die unterschiedlichen musikalischen Lager, die plötzlich miteinander zu kommunizieren begannen. Da fungierte der Club als Katalysator für die Weiterentwicklung der aktuellen heimischen Jazzszene und es trafen sich Musiker aus den unterschiedlichsten Lagern.
Ab Herbst 1994 haben wir eine sogenannte MemberCard eingeführt, die es dem Inhaber ermöglicht, alle Konzerte ohne weitere Geldleistung zu besuchen. Mit dieser Karte gelang es uns, dass bei jedem Konzert zumindest eine gewisse Anzahl von Besuchern im Club war, das heißt, dass es kaum mehr leere Konzerte gab. Diese Karten, die limitiert aufgelegt wurden, waren am ersten Tag der Ausgabe ausverkauft, die Interessenten standen bis zum Graben. Dieses System funktioniert übrigens bis heute und dient nachhaltig der Finanzierung des Veranstaltungsbetriebs.
Wir erhielten 1994 etwa 30 Prozent des damaligen Gesamtbudgets, exakt je 1,9 Mio ATS (140.000 Euro) von Stadt und Bund für den Jahresbetrieb, wurden aber 1995 um 20 Prozent gekürzt. Diese Summe blieb dann bis vor ein paar Jahren „eingefroren“. Wir hatten in der Spiegelgasse einen fünfjährigen (Sub- )Pachtvertrag, der 1998 auslief. In dieser Zeit organisierten wir circa 1.500 Konzerte mit insgesamt knapp 150.000 Besucher. Das P&B konnte sich in diesen Jahren auch international etablieren.
Der wesentlichste Akzent in der Entwicklung des P&B zu einem der Top- Jazzclubs in Europa war der Umzug in das ehemalige Rondell-Kino in der Riemergasse. Nach einem sehr problematischen kulturpolitischen Entscheidungsprozess wurde 1998 das vollkommen devastierte Kino dem P&B zugesprochen, mit einem Umbaubudget seitens des Bundeskanzleramtes von 15 Mio ATS (1,1 Mio. Euro) und seitens der Stadt Wien von (schlussendlich) knapp 5 Mio ATS (350.000 Euro). Das Gesamtvolumen betrug in etwa 30 Mio ATS (2,3 Mio. Euro). Der Differenzbetrag wurde vom Verein aufgebracht, u. a. auch durch ein großzügiges Sponsoring unserer Bank bzw. durch ein finanzielles Entgegenkommen des Hauseigentümers.
Interessant ist die (Kultur-)Geschichte des Hauses, die sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. So gründete eine gewisse Helene Odilon, Frau des beliebten Volksschauspielers Girardi, die Kleinkunstbühne „Boccaccio“, ein Name, den das Lokal in den 1950er Jahren nochmals hatte, als es als Varieté geführt wurde, bevor es dann zum Rondell-Kino wurde, das Ende der 1980er Jahren Konkurs anmeldete.
Das P&B eröffnete schließlich am 28. Dezember 2000 seine neuen Pforten in einem eigens für unsere Zwecke adaptierten Raum für knapp 350 Besucher. Wir veränderten nichts an unserer Programm-Philosophie und haben seit fast zwei Jahrzehnten jährliche Besucherzahlen von knapp 80.000. International wird der Club als „role model“ eines modernen Jazzclubs gesehen. Der britische „Guardian“ listet das P&B als einen der zehn besten Jazzclubs Europas, das amerikanische Jazzmagazin „Downbeat“ reiht uns seit Jahren unter die „top venues“. Dieses Jahr erhielten wir den „9th EJN Award for Adventurous Programming“ des „European Jazz Network“.
Noch kurz zum aktuellen Budget: 2019 lag das Gesamtbudget bei knapp 1,8 Mio. Euro, wobei knapp 60 Prozent Eintrittseinnahmen inklusive MemberCards sind, etwas weniger als 15 Prozent stammen von der öffentlichen Hand, deutlich mehr als 10 Prozent kommen von privaten Sponsoren, und der Rest sind sonstige Einnahmen, etwa aus der verpachteten Gastronomie, Einschaltungen im Folder etc. Der Eigenleistungsanteil ist also ungewöhnlich hoch, die öffentliche Unterstützung demgemäß vergleichsweise gering. Nebenbei bemerkt beläuft sich der Posten Musikerhonorare auch auf knapp 60 Prozent des Budgets ... und das macht uns nicht so schnell wer nach.
Abschließend möchte ich betonen, dass das „Randphänomen“ Jazz mittlerweilen in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein scheint. So gibt es in Österreich bereits den dritten Bundespräsidenten, der ein deklarierter Jazzfan ist. Berücksichtigt man die Tatsache, dass das 20. Jahrhundert zwei Kunstformen hervorbrachte, die es vorher nicht gab, nämlich Jazz und Film, dann muss ich feststellen, dass zumindest der Jazz kulturpolitisch deutlich unterdotiert ist. Dies gilt es zu ändern!
Christoph Huber, Wien April 2020