Sorry this part has no English translation
DO & FR 03./ 04. Februar 2022
Tanz den akustischen Kosmopolitismus
ENJA LEGACY REVUE / 50 Years Of Enja
Donnerstag:
ARK NOIR – Moritz Stahl (ts,ss), Tilman Brandl (e-g), Sam Hylton (keys), Robin Jermer (e-b, bass synth), Marco Dufner (dr)
LBT – Leo Betzl (p, perc), Maximilian Hirning (b, perc), Sebastian Wolfgruber (dr)
Freitag:
MARC RIBOT (acc-g)
In den ausgehenden 1960er Jahren leitete auch in Europa eine sich gegen überkommene Moralvorstellungen, einen autoritären Konservativismus richtende Jugendbewegung gesellschaftliche Umwälzungen ein. Gerade im Kulturbereich ereigneten sich wichtige, die Kleingeistigkeit verdrängende, kreative Entladungen. Pulsschlag einer neuen Geschichtsperiode. Beispielsweise nahm eine junge sich freispielende Jazzszene einen ausgeprägten pan-europäischen Charakter an. Begleitet wurde dieser Umstand von unzähligen Gründungen unabhängiger Plattenlabels. Von Frankreich bis Schweden. Vor allem in Deutschland herrschte dahingehend erstaunlicher Tatendrang. Neben Birth Records, FMP, Moers Music (anfänglich Ring Records) und ECM war das ebenfalls wie ECM in München ansässige Label enja(Akronym für European New Jazz) eine jener engagierten Initiativen. 1971 etabliert, als Gemeinschaftsprojekt von Matthias Winkelmann und Host Weber, die in späterer Folge getrennte Wege gingen, produzierte das Label von Beginn an Projekte europäischer wie amerikanischer Musikerinnen und Kooperationen beider Szenen. Nach 50 jähriger Aktivität steht enja heute im Ruf eines der langlebigsten Jazzlabels weltweit zu sein. Der Veröffentlichungsreigen reicht von namhaftesten Jazz-Legenden bis zu heutigen innovativen, barrierefrei denkenden MusikerInnen. Neugierig machte somit das Programm der zweitägigen Jubiläumsveranstaltung zusammengesetzt aus dem Kraftfeld der nächsten Generation und gestandenem Solitär. So ließen am ersten Abend zwei Formationen aus Deutschland ihre von der Jazzbasis ausgehende Herangehensweise an Funktionalismen der Clubmusik erklingen. ARK NOIR vermengt funky Backbeats durchwirkt von Breakbeat- und 2 Step-Rhythmen mit Electronica und Jazzharmonien. Nukleus der Musik ist mit seiner Wirksamkeit der exzellente Schlagzeuger Marco Dufner. Genuin in der Lässigkeit, bastelte er einen Raster belebender Grooves, agierte geschickte mit Verlagerungen der schweren und leichten Taktteile. Forciert mit enormem Andruck. Zumeist hängte sich der E-Bass mit gelungenen Hooks an. Jedoch gerieten die Improvisationen und harmonischen Progressionen der restlichen Mitmusiker in ihrer Aussage zu zaghaft, Changes-stereotyp und etwas Unselbstständig. Schade, denn heißspornige Saxophonkaskaden, kratzbürstige E-Gitarren Sounds oder verdrehte Akkorde der Keyboards hätten katapultmäßig auf die Musik gewirkt. Denn die muss brüllen.
Techno-Attributen huldigt das jazzsozialisierte Piano Trio LBT. Bestechend mit welcher Präzision sie ihren dreiviertelstündigen Rave, Jazzechos schallen immer noch ab und an herüber, ausrollten. Techno unplugged ist die Devise des Terzetts. Grundstock: Ein maschinenhafter four to the floor-Beat der Kick-Drum, um den herum sich zumeist chromatisch gebaute bzw. perkussiv melodische Motivketten gruppierten. Jeder der drei nahm sehr wohl Bedacht auf seine eigene Phrasierungs-/Akzentuierungsweise. Demzufolge türmten sich von Mal zu Mal polymetrische Schichtungen und Kontraakzentuierungen auf, deren Bewegungsimpulse den Nerv trafen. Originalität bewiesen die Musiker auch in der akustischen Realisierung elektronischer Sounds. Unter anderem mit gestimmten PVC-Rohren oder Schlagzeug- und Bass-Präparationen. Dennoch die Sturheit des Kick im 120bpm-Modus und das Repetitivkonzept bekommen im Verlaufe den Anstrich von Materialermüdung. Vor allem wenn man keiner Tanzwütigkeit huldigt. Nicht abzusprechen ist ein unbändiger trancehafter Sog.
Stilistische Entgrenzung oder auch Idiomkoppelung nennbar, summiert sich zur musikalischen Dringlichkeit dieses kompletten Musikers, der Intellekt und Emotion eloquentest zu bedingender Dualität erhebt. Alleine der Umstand des gefragten Studiomusikers auf den diversesten Kirtagen, in jüngerer Vergangenheit saß er z.B. an der Seite von Diana Krall oder Robert Plant/Allison Krauss, spricht für sein klangkünstlerisches Kosmopolitverständnis. Unter der „Jazzlupe“ konsolidiert. „Only Alone“ saß MARC RIBOT sodann mit seiner alten, abgewetzten, aber anscheinend sorgfältig restaurierten Akustikgitarre vor zahlreichem Publikum. Unmittelbar versank er in entkitschte, romantische Arpeggien. Bedächtig, nachhörend, zeitdehnend. Thematische Inseln waren in Abständen kontinuierlich Kernpunkt. Er sezierte sie in Einzeltonfolgen, umgedeutete Intervallsprünge und trieb sie im ad hoc-Verlangen in verwandelte Harmoniekonnotationen. Ein Bedürfnis nach Schönklang aber ebenso nach Rauheit und emotionaler Resistenz waren Ribot gleichgestellte Herzenswünsche – tiefe Verbundenheit zur Humanität. Umwerfend ist allenthalben seine stupende Beherrschung der Kunst des Zitates. Dabei hört er weit in die Musikgeschichte zurück. Fragmente bachscher Präludien bekleiden in seinem Individalkosmos den gleichen inspirativen Stellenwert wie Paraphrasen über „Break On Through“ der Doors oder Beatles Songs. Oder wie Andeutungen einer italienischen Kanzone, von Gypsy Swing, Ragtime, Tin Pan Alley Hits, so etwa „Smoke Gets In Your Eyes“. Improvisationen, beispielsweise über ein Thema von Albert Ayler („Ghosts“) oder John Coltrane („Sun Ship“), hier offenbarte sich sein freitonales Gestaltungsvermögen, als auch spontan materialisiert, deto die Interpretation von Stücken des haitianischen Komponisten Frantz Casseus bilden weitere wesentliche Säulen seines Tuns. Plötzlich bog er Richtung Blues ab, zog vor jenem afro-amerikanischen Kulturgut den Hut, erlaubte sich aber auch eine respektvolle, transformierende Abstraktion. Erfrischen zudem das Ineinandergreifen von Konsonanz und Dissonanz in der Verbindung brillanter Gitarrentechnik, die im Hintergrund wirkt. Ein glückhaftes Recital inklusive der Anregung zur Wachsamkeit, Unbequemlichkeit, zu Respekt. „While My Guitar Gently Roars - Corpus delicato.”Und: Gratulation an all die Menschen hinter enja.