Schon seit gut einem Jahrzehnt gilt Chris Potter als der derzeit kompletteste, amerikanische Saxophonist, der die zurückliegenden Jazzerrungenschaften als deren zeitgenössischer Fährtenleser zu brisanter Eigenständigkeit, angetrieben von diverse umliegende Klangwelten durchpflügender Neugierde, eingeschmolzen und vervollkommnet hat. Es fällt ihm ein Leichtes, aus allen möglichen und unmöglichen Herausforderungen Musik werden zu lassen. Dabei verhedderte sich Potter keineswegs in instrumentaltechnischer Akrobatik, von der er im Überfluss zu bieten hätte, sondern tüftelt mit Akribie an der Vertiefung musikalischer Inhalte respektive Versuchsanordnungen. Vorzügliche Artikulation, originäre Phrasierungsweise und spezifische Formung eines Tones konfigurierte der Saxophonist aus Anregungen, die er den Spielweisen aller großen Jazz-Neuerer des Saxophonspieles abgewann. Heraushörbare besondere Bedeutung stellten dabei Sonny Rollins, Booker Ervin und klarerweise John Coltrane dar. Jazz-Größen wie die Be Bop-Legende Red Rodney, Dave Holland, Paul Motian erkoren ihn immer wieder zum bevorzugten Partner. In jüngerer Zeit hat sich Potter sowohl in seinem Spiel als auch klangorganisatorisch verstärkt jener Ästhetik geöffnet, die die prägenden Saxophonisten der 1980er Jahre, Bob Berg und Michael Brecker, etablierten. Jenes, Jazz-/Rock-/Funk-Parameter paritätisch zusammenführende Stilkonzept, das für diese Art der „Jazzlegierung“ neue Maßstäbe setzte. Potter gelangte zu einer erstaunlichen, persönlichen Mixtur, die an diesem Abend außerordentliche Gewichtigkeit fand. Er konnte auch auf erstklassige Tour-Partner, berufener Stilist ein jeder, vertrauen. Unmittelbar zündete eine altruistische Bandchemie. Angesiedelt auf einem schier unfassbaren Energielevel. Jedoch ohne ringen nach Luft und Schweißausbrüchen. In einem Fließzustand des besonderen Momentes erklomm die Musik Höhepunkt um Höhepunkt. Drängende Groovness war omnipräsent. Oftmals stieß Potter diese mit markigen Pattern an. Schlagzeuger Justin Brown entwarf umgehendst eine unstete Rhythmusverschalung. Time Keeping dröselt er in komplexeste Abfolgen von Schlagmustern, unentwegte Akzentverschiebungen und verkeilte, polyrhythmische Überlagerungen auf. Mit frappierender Rasanz auf konstantem Spannungslevel. Der Bass pumpte fette Funk-Ostinate hinein, die im Austausch mit autonomen, teils harmonisierten Melodielinien standen. Fast gänzlich widmete sich Craig Taborn, weiterer eklektizistischer Kreativkopf aktuellen Jazztreibens, elektrischen Tasteninstrumenten, Marke Old School, vorrangig dem E-Piano und zugehörigen Effektgeräten. Kantige Akkordbauten, spacige Raumklänge, hypnotische Arpeggio-Repetitionen, Radikal-Techno-Andeutungen montierte Taborn zu abstrakten Texturen zusammen. Improvisatorisch spannte er den Schirm noch weiter auf. Harmonische Untiefen und Abwendungen vom tonalen Kern der Stücke standen an, förderten die Dringlichkeit. Exzeptionell unter Strom stand Potter. Er platzierte Impulse wo und wann sie sein mussten. Themen tauchten in ad lib-Manier auf. Es ging nicht so sehr um die Kompositionen, denn vielmehr um emotionale Momententladungen. Binnen kürzestem stürzte sich der Saxophonist regelrecht in die Improvisation. Die baute er mehr auf motivische Skizzen als Changesprogressionen auf. Ketten aus ersterem verflocht er organische mit unerschöpflichen Melodiebändern. Scharf gezeichnet, extrem wendig, pantonal verzweigt. Setzte Potter elektronische Gerätschaften ein, wie z.B. einen Multivider, tat er dies klangfarbenergänzend wohldosiert. Ein perfekt geschlossenes System mit, entsprechend der Rahmenbedingungen, offener Ausrichtung. Die signifikanten Schwingungen im Club und sein konzentriertes Publikum, bedingten abermals musikalisch Außergewöhnliches. (Hannes Schweiger über das Konzert vom 1. April 2019)
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