Renald Deppe „for poets & writers“ (...east of the moon...) – In memoriam Wisława Szymborska (1923-2012)
Trio Kabelfisch
Isabella Forcitini: modular synthesizer, prepared e-guitar
Tobias Leibetseder: electronics
Renald Deppe: clarinet, conception, graphein
&
Johanna von der Deken: voice
• Wir wissen es:
Wisława Szymborska kannte finstere Zeiten. Geboren in Prowent.
Wir wissen es:
Der Literatur-Nobelpreis kann - muss aber nichts deuten.
Der Literatur-Nobelpreis kann - muss aber nichts bedeuten.
Der Literatur-Nobelpreis kann - muss aber nicht für literarische Qualitäten stehen.
Der Literatur-Nobelpreis kann - muss aber nicht angenommen werden.
Der Literatur-Nobelpreis kann - muss aber nicht vergeben werden.
Der Literatur-Nobelpreis des Jahres 1996 ging an Wisława Szymborska.
Wir wissen es:
Ein Buch kann - muss aber nicht nobel gepriesen werden.
Ein nobel gepriesenes Buch kann - muss aber nicht erworben werden.
Ein erworbenes Buch kann - muss aber nicht aufgeschlagen werden.
Ein aufgeschlagenes Buch kann - muss aber nicht gelesen werden.
Wir wissen es:
Würde man die Bücher von Wisława Szymborska erwerben, aufschlagen und lesen:
man würde lernen zwischen den Zeilen zu lesen, zu denken, zu fühlen, zu leben, zu urteilen.
Denn viele Dinge, Befindlichkeiten, vermeintliche Tatsachen & erträumte Realitäten würden
uns aus ungewohnten Perspektiven erstaunen. Begegnen. Erschrecken. Beglücken.
Eine große polnische Dichterin, ungemein bescheiden, unbeirrbar öffentlichkeits- & medienscheu.
Eine unbestechlich klar- & weitsichtige Zeit- & Leidzeugin von Weltsichten vor & hinter dem eisernen Vorhang.
Die polnische Dichterin Wisława Szymborska, wohnhaft in der kreisfreien Stadt Krakau,
lehnte zumeist Einladungen mit den Worten ab: »Ich komme, sobald ich jünger bin.«.
Die virtuose Meisterin der poetischen Verdichtung, der Verzauberung des Alltäglichen,
hielt 1996 die kürzeste Dankesrede in der Geschichte der Nobelpreisvergabe:
»Der erste Satz einer Rede ist - sagt man - immer der schwerste.
Das also habe ich schon hinter mir...
Aber ich fühle, dass auch die nächsten Sätze schwer sein werden,
der dritte, sechste, zehnte bis hin zum letzten, denn ich soll über Poesie sprechen.
Zu diesem Thema habe ich mich selten geäußert, fast überhaupt nicht.
Und immer begleitet von der Überzeugung, dass ich es nicht sonderlich gut mache.
Deshalb wird mein Vortrag nicht allzu lang.
Unvollkommenheiten sind leichter erträglicher, wenn man sie in kleinen Dosen verabreicht.«
Wohl auch eine der schönsten. Ehrlichsten.
Haupt- & Nebensachen, Haupt- & Nebendarsteller, Haupt- & Nebenrollen,
Haupt- & Nebenwörter, Haupt- & Nebensätze wusste sie wohl zu unterscheiden.
Wenige haben es ihr gedankt, viele verübelt. Die meisten ignoriert.
Wir wissen es:
Würde man die Bücher von Wisława Szymborska erwerben, aufschlagen und lesen:
wir würden ihre folgenden Zeilen nicht als Bedrohung, Gefährdung oder unvermeidbaren Wahlzwang lesen.
»Jedem wird einmal ein Angehöriger sterben,
zwischen Sein oder Nichtsein
gezwungen, letzteres zu wählen.«
Wie das Gedicht weitergeführt wird? Lesehinweis:
Wisława Szymborska
Glückliche Liebe
und andere Gedichte
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall und Karl Dedecius
Mit einer Nachbemerkung von Adam Zagajewski
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
Herzlich Willkommen. (Renald Deppe)
https://db.musicaustria.at/node/52550