Ladislav Fančovič, Johanna Gröbner, Soley Blümel, Georg Vogel & mathias rüegg: piano
Wolfram Berger: Sprecher
Aurelia Roher: visuals
Es tut uns sehr leid, aber aufgrund einer Corona-Erkrankung kann das Konzert von Lia Pale & mathias rueegg nicht wie geplant stattfinden, sondern muss auf den 3. September verschoben werden. Wir bitten um Verständnis... https://porgy.at/events/11140/
Ab dem Moment des Lockdowns am 16. März 2020 legte sich eine von Angst durchsetzte, unheimliche und paranoide Stimmung über die Stadt Wien, die sich selbst in den kleinsten hintersten Winkeln nicht verflüchtigte. So gab es für mich nur eine Möglichkeit, dieser kollektiven Depression zu entrinnen, und das war die Flucht in die Kreativität, ins Komponieren bzw. Bearbeiten. Deshalb beschloss ich am Donnerstag, dem 19. März, ab sofort jeden Tag ein kurzes Klavierstück zu schreiben; jeweils genau zwischen 18.00 und 22.00 Uhr, von Donnerstag bis Montag. Mein Ziel war es unter anderem, meine kreative Abrufbarkeit zu testen. Deswegen durfte ich mich vor 18.00 auch nicht damit beschäftigen, was ich schreiben werde, sondern ich musste mich „stante pede“ in eine andere Welt „fallen lassen“ quasi in eine Art Schockstarre, aus der ich jeweils erst um 22.00 wieder aufwachen durfte. Das ging am Anfang problemlos, doch ab der zweiten Woche schlichen sich Zweifel ein. Halte ich das durch, schaff ich das? Was ist, wenn mir nichts einfällt? Es war mir klar, dass ich das Experiment bei einem Versagen sofort abbrechen würde. Das setzte mich gewaltig unter Druck. Dazu kam noch, dass ich in den ersten vier Wochen jeweils am 6. Tag genau acht Stunden lang eine viersätzige Suite für ein Kammermusikquartett schrieb. Am siebten Tag gab es dann einen Ruhetag, ab der fünften Woche jeweils zwei. Die Intensität erinnerte mich an den August 2011, wo ich in knapp vier Wochen die Musik zu einer kompletten Show des Big Apple Circus (NYC) schreiben musste.
Nachdem ich mit den ersten Stücken nicht unzufrieden war, entstand dann schnell die Idee, ein Album mit vierzig Takes zu machen, auch der Gedanke eines Notenbuches geisterte in meinem Kopf herum. Ich dachte z.B. an Zugaben für klassische Pianisten die sich für Jazz interessieren. Oder auch an leichtere Stücke für Hobbypianisten aller Gattungen. – Es gibt nicht allzu viel sinnvolles Notenmaterial in diesem Bereich.
Die Auswahl der Pianisten war mir ein Vergnügen – wenn auch mit einigen Überraschungen verbunden, und die Anzahl der gespielten Stücke hatte viel mit den diversen Verfügbarkeiten, bzw. Nichtverfügbarkeiten zu tun. Klar war mir von Anfang an, dass Ladislav Fančovič einer der Hauptakteure sein würde. Mit František Jánoška gesellte sich ein Zweiter (beide aus Bratislava) dazu, ebenfalls in der Klassik wie im Jazz gleichermaßen zuhause. Vier Stücke hat der Schweizer Oliver Schnyder beigesteuert, der zusammen mit der soeben zwölf Jahre alt gewordenen Wienerin Soley Blümel und Johanna Gröbner (Pianistin der letzten Edition des Vienna Art Orchestra) aus dem „Hardcore“-Klassikbereich kommt. Die drei Salzburger Pianisten Elias Stemeseder, Georg Vogel und Lukas Kletzander vertreten die junge österreichische Jazzszene. Gestandene Jazzpianisten sind der Franzose Jean-Christophe Cholet und der Wiener Oliver Kent.
Aufgenommen wurden die Solitude Diaries an fünf Tagen im Juli/August im Bösendorfer Schauraum im Wiener Musikverein auf dem exzellenten Konzertflügel 280VC – Vienna Concert von Thomas Egger, mit dem ich nun schon seit einigen Jahren erfolgreich zusammenarbeite. Bösendorfer sei für die großzügige und unkomplizierte Unterstützung herzlich gedankt, vor allem Vladimir Bulzan.
Zu den einzelnen Stücken:
Take 22 ist unter ganz besonderen Umständen entstanden: Während des Übens am Nachmittag überfiel mich um ca. 16.00 plötzlich ein hexenschussartiger Schmerz im Rücken, gekoppelt mit einem heftigen Fieberschub und starkem Schüttelfrost. Ich konnte mich gerade noch auf mein Sofa retten und hatte plötzlich panische Angst. Übrigens das einzige Mal in der ganzen Zeit! Meine Parole lautete „Durchhalten“ und niemanden anrufen! Nach ca. einer Stunde wurde es ein wenig besser, und mein einziger Gedanke war, schaff ich es, mich um 18:00 Uhr, zu meinem Flügel zu schleppen? Ich schaffte es tatsächlich, war aber sehr schwach. So beschloss ich, aus den ersten 21 Stücken jeweils zwei Takte „auszuschneiden“ und dann zusammenzusetzen. Deshalb ist dieses Stück kompositorisch das Einfachste von allen, aber irgendwie auch das Wichtigste. Denn ich hatte mein Take an diesem Tag trotzdem geschafft und konnte also weitermachen!
Das letzte Programm, dass das Vienna Art Orchestra 2010 gespielt hatte, hieß Songs and Signs from Mahler. Ein Stück davon, Das irdische Leben (Take 20) habe ich nun von meiner Orchesterfassung für Klavier, sprich für die linke Hand, rückarrangiert. Eine Mollversion vom Lieben Augustin (Take 16) gibt es ebenso, wie Variationen über Jessas Na (Take 33), das erste Stück, dass ich 1977 für das VAO geschrieben hatte. Die insgesamt neun Arrangements haben mir den Druck etwas weggenommen. Weitere Bearbeitungen gibt es von Lauren Bacall – The Smile of Gold aus der VAO-Trilogie 2007 (Take 34) oder Aschera (Take 35), zu dem Georg Vogel so wunderbare Verzierungen hinzugefügt hat. Aschera steht übrigens für Schiers, das ist der Ort im Prättigau, wo ich aufgewachsen bin.
Im Take 19 dient ein A4-Blatt als Präparation, in dem es die Töne vom f bis zum D“ verfremdet. Weiters gibt es ein paar rhythmisch sehr anspruchsvolle Stücke wie Take 4, 18, oder 37, ebenso wie ein paar (lustige) Ostinati (Take 10, 30 und 39). Im Gegensatz dazu auch Romantisches in den Takes 8, 9, 14, 21 und 29. Und selbstverständlich auch ein paar jazzige Tunes wie Take 17, 26, 27 oder 38. Und bei den drei abstrakteren Stücken (Take 13, 15, 22) bin ich selbst der Interpret.
Der einzige Unterschied zwischen Jazz und Klassik ist die Rhythmik, die im Jazz eine viel größere Rolle als in der Klassik spielt. Es geht darum, dass alles, was Musiker und Musikerinnen spielen, immer in Relation zum Grundpuls, zur „Time“ stehen muss. Deswegen Duke Ellington’s berühmter Titel: „It don’t Mean a Thing, If it Ain’t Got that Swing.“ Und das betrifft natürlich die komponierte Musik, wie im vorliegenden Fall, genauso. Alles steht und fällt mit der Rhythmik, bzw. der Phrasierung.
Parallel zu den Klavierstücken habe ich auch tagebuchartig Texte verfasst. Die beginnen sehr poetisch und werden dann immer politischer und radikaler; und somit künstlerisch uninteressant. Aber vielleicht stelle ich diese Texte irgendwann auf meine Homepage www.mathiasrueegg.com. Der Lockdown-Irrsinn in Kombination mit der Quasi-Aushebelung der Demokratie – ohne auch nur den geringsten Widerstand – war nur schwer verkraftbar für so einen Freigeist wie mich. Und ist es noch immer! Aber lassen wir das, stattdessen gibt es dafür den vergnüglichen Liedtext zum Take 6:
Die Stadt ist groß und sie ist fern,
ich lebe dort, und das sehr gern.
Weit weg, nicht mehr im Bündnerland
(das ich verließ vor langer Zeit –
sprich einer halben Ewigkeit)
in Wien, wo ich mich selber fand!
Musik, die Kunst, das pralle Leben,
das alles fand ich eben,
so gar nicht in dem Schiers so grau,
drum sagt ich „Tschau zum Prettygau“.
Doch nun oh weh! ist alles tot,
mein Wien verwaist und voller Not!
Der Himmel dunkel, finst’re Gassen,
man kann das alles gar nicht fassen.
Berge, Blumen, Anemonen,
in den schönsten Variationen,
schweben mir im Geiste vor
und ich hör den Grüscher Chor,
singend auf der Alp für alle,
lauter schöne Intervalle:
Dieses Lied, das niemand kennt,
nicht einmal der Dirigent!
mathias rüegg, 20.3.20
https://www.mathiasrueegg.com/