Sa 18. März 2023
20:30

Mary Halvorson Amaryllis Sextet (USA)

Mary Halvorson: guitar
Adam O’Farrill: trumpet
Jacob Garchik: trombone
Patricia Brennan: vibraphone
Nick Dunston: bass
Tomas Fujiwara: drums

Wir starten ca. 1/2 h vor Konzertbeginn den Live-Stream (Real-Time, nach Konzertende nicht mehr abrufbar!). Durch Klicken auf "Zum Livestream" öffnet sich ein Fenster, wo Sie kostenlos und ohne irgendeine Registrierung das Konzert miterleben können. Wir ersuchen Sie aber, dieses Projekt über "Pay as you wish" zu unterstützen. Vielen Dank & Willkommen im realen & virtuellen Club!

Quanten-Jazz

Freie Improvisation als spontane Komposition: Neue Alben von Binker & Moses, Ingrid Laubrock und Mary Halvorson.

Man könnte über diese Kolumne "Bekenntnisse eines Free-Jazz-Hörers" schreiben. Das würde mal abgesehen vom prätentiösen Literaturbezug das Thema gut treffen, weil in dieser Musik etwas Rauschhaftes steckt, das sich ähnlich schwierig erschließt wie die Wirkung des Opiums in Thomas de Quinceys Autobiografie. Wobei man sich den Zugang leichter macht, wenn man erst einmal einen historischen Irrtum ausräumt. Den Pionieren und Zeitgenossen des Free Jazz ging es schon lange nicht mehr darum, die Regeln der wohltemperierten Musiktheorie auszuhebeln. Free Jazz war nach dem Urknall im Kontext der abstrakten Künste ein Experiment der Kommunikation. Vor allem die Momente, in denen die Musiker den "Pulse" finden, jenen Zustand, in dem die Improvisationen einen gemeinsamen Fluss haben und so auch auf die Zuhörenden überspringen. Das funktioniert auf Platte selten. Aber gerade sind vier Alben erschienen, die beweisen, dass die Grenze zwischen Improvisation und Komposition ein kulturelles Konstrukt ist.

Wie sehr die freie Musik auch ein Publikum mitreißen kann, das sich auf so ein Konzert ohne Vorbildung und Erwartungen einlässt, hat in den letzten Jahren das Duo Binker & Moses vorgeführt. Die beiden sind sehr deutlich vom Goldstandard des freien Duospiels inspiriert, den der Saxofongott John Coltrane und der Schlagzeuger Rashied Ali auf dem Album "Interstellar Space" vorgaben. Harter Stoff. In den letzten Jahren haben der Tenorsaxofonist Binker Golding und der Schlagzeuger Moses Boyd aber immer wieder die Londoner Clubs, Lofts und Hallen bespielt, in denen sich der Jazz dort aus der Nische ins Nachtleben vorgearbeitet hat. Und weil dort buchstäblich alles geht, war das mit dem Funkensprung in der Regel auch keine Sache.

Für ihr neues, schon fünftes Album "Feeding the Machine" (Gearbox) haben sich sich nun einen Dritten ins Studio geholt. Max Luthert ist eigentlich Bassist, arbeitet in diesem Fall aber als "Sound Designer". Das ist die neue Berufsbezeichnung, mit der Musiker ihr immer vielschichtigeres Handwerk verkaufen, weil in den elektronischen Medien das Instrumentenspielen nicht so viel Geld einbringt. Auf diesem Album zeigt Luthert aber, was das sein kann. Mit Bandschleifen und Effektgeräten manipuliert er die freien Improvisationen der beiden mit dem Gespür eines Musikers, der den Klang an sich zu seinem Instrument gemacht hat. So wird aus einer inzwischen schon betagten Kunstform (Coltrane und Ali nahmen ihr Album 1967 auf) eine sehr zeitgenössische Angelegenheit. Inklusive dem einen oder anderen Monster-Beat und einem elektronischen Klangverständnis, die irgendwo tief in den Londoner Clubs gegoren sind.

Dass freie Improvisation nicht zwangsläufig auch bedeutet, dass Harmonie und Rhythmus verhackstückt werden, sondern im Gegenteil Wege zum "Pulse" sein können, führt die Saxofonistin Ingrid Laubrock seit einiger Zeit auf ihren Duo-Alben vor. Für die neueste Folge einer langen Serie hat sie sich mit dem Pianisten Andy Milne zusammengefunden. Wie die beiden da zum Beispiel in "Fragment" dem Flügel und dem Saxofon völlig neue Klänge entlocken, zeigt, wie weit sie sich vorwagen. Sie dosieren ihre Experimente dabei mit enormem Feingefühl. Da zählt nicht nur jede Note, sondern jeder Oberton, jedes Nebengeräusch. Nichts ist zufällig, deswegen finden sie bei allen zehn Stücke aus dem Stand zum "Pulse", der bei ihnen von einem Sinn für Schönheit bestimmt wird. "Fragile" (Intakt) ist damit eines der besten Beispiele dafür, dass Kompositionen nicht zwangsläufig auf Notenblätter festgehalten werden müssen.

Bei der Gitarristin Mary Halvorson fügen sich freie Improvisation und feste Formen auf ihren beiden neuen Alben zu einem Meisterwerk. Man darf sie ganz ohne Superlativ-Verdacht als Genie bezeichnen. 2019 bekam sie eine MacArthur Fellowship, den sogenannten "Genius Award". Hohe Latte. Eindeutig übersprungen. Noch dazu begann das Projekt in der Einsamkeit der Lockdowns von 2020. Daraus ist nun ein zweiteiliges Werk für Kollektive entstanden, das auf den Alben "Amaryllis" und "Belladonna" (Nonesuch) erschienen ist. Auf "Amaryllis" arbeitet sie mit einem Jazz-Sextett und einem Streichquartett, die sich durch einen grandiosen Parcours aus Motiven, Freiräumen und Spannungsbögen spielen. Vom Post-Bop über theatralische Hymnen bis zur zeitgenössischen Kammermusik wird da viel abgedeckt, aber gerade weil das zu einer Einheit zusammenfindet, ist das Album ein solcher (ja doch, jetzt nochmal) Geniestreich. Auf "Belladonna" spielt sie alleine mit dem Streichquartett. Wie die freie Gitarre und die durchkomponierten Passagen der Streicher einen "Pulse" finden, ist eine streckenweise verblüffende Verschränkung zweier Formen, die sonst ungefähr so weit auseinanderliegen, wie zwei Partikel an den entgegengesetzten Enden des Zeit-Raum-Kontinuums. Quanten-Jazz. Mit allen Sprüngen, die in der Metapher liegen. Man ahnt, was für Hochgefühle die Musikerinnen da im Studio gehabt haben müssen. (Andrian Kreye, www.sueddeutsche.de)