Di 16. April 2024
20:30

Biondini – Godard – Niggli (I/F/CH)

Luciano Biondini: accordion
Michel Godard: tuba, serpent, bass
Lucas Niggli: drums, percussion

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"contemporary mediterranian alpine chamber music"

In Schnittpunkten von Kulturen entsteht meistens etwas Spannendes und Neues.

Luciano Biondini und Michel Godard trafen sich erstmals in der Band von Rabih Abou Khalil. Später folgte das Projekt TubaTuba. Schliesslich trafen sie sich erneut im Trio mit dem Cellisten Ernst Reijseger. Daraus ergibt sich ein neues Trio mit dem Schweizer Schlagzeuger Lucas Niggli.

Die Alpen sind zwar die Schnittstellen der drei Musiker. Allerdings dreht sich die Musik der drei nicht um sie, sondern um sie. Biondini verschmelzt mediterrane Klänge mit argentinischen. Godard erzählt grosse musikalische Geschichten über alle Zeitgrenzen hinweg. Und Lucas Niggli bewegt sich hinter seinem Schlagzeug zwischen ziselierten und brachialen Rhythmen. Dabei nutzen die drei Virtuosen ihre Kompositionsvorlagen als ideale Sprungbretter für lustvolle Geschichten. Dabei kitzeln sie manchmal auch die Grenzen gehen ihrer Spieltechniken und Ausdrucksformen. Daraus entsteht eine Seelenmusik voller Energie, Poesie und feinem Witz. (Pressetext)

«Mavì» heisst die neue CD des Trios Biondini-Godard-Niggli. Der Titel bezeichnet ein klares Blau – jene Farbe, die man sieht, wenn man die Erde vom All aus betrachtet. Und er sagt viel über die Klänge, die uns da beschert werden. Wir hören Musik, die aus den Sphären zu kommen scheint und doch höchst welthaltig, bewegt und sinnlich ist. Das Trio von Luciano Biondini, Michel Godard und Lucas Niggli ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Da ist zum einen die Herkunft der Musiker: Biondini (*1971) stammt aus Spoleto in der italienischen Provinz Perugia, Michel Godard (*1960) kommt aus dem französischen Héricourt bei Bel- fort in der Franche-Comté, und Lucas Niggli (*1968) ist Schweizer und im Zürcher Oberland daheim, verbrachte aber die ersten sieben Lebensjahre in Kamerun, wo seine Eltern in der Entwicklungshilfe arbeiteten. Verschiedene Kulturen und Sprachen kom- men hier also zusammen. Im Proberaum, im Studio und auf der Bühne verständigen sich die drei Musiker meist in einem mit fran- zösischen Wörtern gespickten Italienisch, nur bei Meinungsverschiedenheiten wechseln sie ins Englische.

Eine zweite Besonderheit des Trios ist seine instrumentelle Zusammensetzung: Biondini spielt Akkordeon, Niggli Schlagzeug sowie alle Arten von Perkussion, und Michel Godard widmet sich der Tuba und dem Serpent (einem urtümlichen, schlangenförmig gewundenen Blasinstrument mit einem Mundstück wie bei einem Blech-, aber seitlichen Löchern wie bei einem Holzblasinstru- ment). Manchmal greift Godard aber auch zum E-Bass. Mit dieser so eigenwilligen wie faszinierenden Instrumentierung verfügt das Trio über eine im Wortsinn unerhörte Klangfarbenpalette.

Die Schönheit des vielfach schimmernden und leuchtenden Klangs ist indes nur das eine. Das andere ist die Virtuosität der Musi- ker, ihre melodische, harmonische und rhythmische Erfindungskraft, ihre Fähigkeit zum empathischen Zusammenspiel, ihre leicht- füssige Intelligenz im Umgang mit komplexen musikalischen Formen.

Letztere ist wohl dadurch zu erklären, dass sich alle drei Musiker zwar dem Jazz verschrieben haben, aber nicht oder nicht nur von ihm herkommen: Biondini studierte von seinem zehnten Lebensjahr an klassisches Akkordeon und gewann mit seinem elaborier- ten Spiel zahlreiche Preise, bevor er sich 1994 dem Jazz zuwandte. Auch Michel Godard verfügt über eine klassische Ausbildung. Er spielte von 1988 an im Philharmonischen Orchester von Radio France und in etlichen anderen Formationen. Daneben tritt er auch als Solist auf und unterrichtet Meisterklassen. Lucas Niggli schliesslich war schon als Kind ein leidenschaftlicher Schlagzeu- ger, erhielt aber auch Klavier- und Gesangsunterricht, entdeckte früh die moderne E-Musik und hat sich seither als Komponist und Leader mit den verschiedensten Formationen (Steamboat Switzerland, Black Lotos, Zoom, Big Zoom) hervorgetan.

Wie im Jazz nicht anders zu erwarten, haben Biondini, Godard und Niggli mit einem Who’s who der Jazzszene musiziert. Es ist hier nicht der Ort, die Namen alle aufzuführen. Mehrfach haben sich die Wege der Musiker schon gekreuzt: So nahmen Biondini und Godard mit dem Tubisten Dave Bargeron und dem Schlagzeuger Kenwood Dennard 2003 das grandiose Album «Tubatubatu» (Enja) auf, und auch Niggli kennt seine Mitmusiker aus verschiedenen Kontexten.

Als Trio zusammengefunden haben die drei im Jahr 2010. Im Frühjahr 2011 legten sie mit «What Is There What Is Not» (Intakt) eine fulminante Debüt-CD vor, in der sie Eigenkompositionen, eine Bach-Bearbeitung und John Coltranes «Naima» spielten. In der
Zwischenzeit sind sie während vieler Auftritte zu einer Working Band zusammengewachsen, die mit jedem Konzert aufs Neue überrascht. «Mavì», die neue CD, setzt das Konzept des Erstlings fort und entwickelt es weiter.

Die meisten Kompositionen haben Biondini und Godard beigesteuert. Aus dem Barock grüsst diesmal eine hinreissende Bear- beitung der Arie «Lascia ch'io pianga» von Georg Friedrich Händel. Der Komponist hat diese Melodie geliebt und sie in verschie- denen Ausformungen in seinen Werken «Almira», «Il trionfo del Tempo e del Disinganno» sowie «Rinaldo» verwendet.

Als zeitgenössische Fremdkomposition wurde diesmal «Unrequited» von Brad Mehldau ausgewählt. Die Musik wurde teils live mitgeschnitten, teils im Studio eingespielt. Am 22. Mai 2013 gab das Trio am Eröffnungsabend des Jazzfestivals Schaffhausen ein mitreissendes Konzert.

Daher stammen Nigglis poetisches Solo «Black Eyes» und Godards direkt daran anschliessende Komposition «A Trace of Grace» – zweifellos Höhepunkte des Albums. Sowohl die Musiker als auch das Publikum spürten, dass da etwas Ausserordentliches geglückt war. Deshalb ging das Trio gleich an den beiden folgenden Tagen in Willy Strehlers Studio Klangdach in Guntershausen. Zu Beginn war es nicht leicht, die euphorische Atmosphäre und dialogische Dichte des Auftritts auf die neue Situation zu übertra- gen. Doch es gelang der Band, sowohl den Schwung als auch die Konzentration mitzunehmen und auch im Studio als Live-Band zu agieren. Editing, also nachträgliche Bearbeitungen, gab es so gut wie keine. Die Musik pulsiert und atmet. Namentlich das herr- liche Titelstück zeugt davon.

Die Musik von Biondini, Godard und Niggli lebt von ihrer Poesie, ihrer Klangschönheit, ihrer Gedankentiefe, aber auch von ihrer inneren Spannung. Diese entsteht durch das Verweben von Komposition und Improvisation. Längst nicht alles ist ausgeschrieben. Bei der Händel-Bearbeitung zum Beispiel war es nur die Basslinie. Meist genügen sogenannte Lead-Sheets als Ausgangspunkt. Dann schlägt die Stunde des Interplays. Und dieses ist hier in beglückender Intensität zu erleben. Die Musiker agieren als gleich- berechtigte Partner, sie bilden ein gleichseitiges Dreieck, sie hören aufeinander, spielen sich Ideen zu, nehmen sie auf, verändern sie: bald versonnen, bald übermütig, aber immer intelligent und mit Respekt vor der Komposition. So gelingt ihnen jene Verbin- dung von Form und Freiheit, die den Kern des Jazz ausmacht – und wir sehen die Erde in klarem Blau. (Manfred Papst)