Daniel Humair / Samuel Blaser / Heiri Känzig 'Helveticus' (CH)
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Auf dem fliegenden Teppich
Sie könnten Grossvater, Vater und Sohn sein: Der Schlagzeuger Daniel Humair, der Bassist Heiri Känzig und der Posaunist Samuel Blaser. 85, 66 und 42 Jahre alt sind sie; doch die drei Musiker begegnen sich hier auf Augenhöhe – in einem hellwachen Gespräch, das Tradition und Moderne verbindet, Lyrik und Dramatik, Innigkeit und Witz. Alle drei sind nicht nur Meister ihres Instruments, sondern zugleich Bandleader und Komponisten von Rang. In diesen Funktionen, aber auch als Sidemen sind sie in der globalen Jazz Community anerkannt und bestens vernetzt. 2020 gab das All-Star-Trio seinen Einstand mit dem Album «1291»; der Titel spielt auf das Jahr an, aus dem der Bundesbrief stammt, das älteste Verfassungsdokument der Schweiz. Nun legt die Band mit «Our Way» einen überzeugenden Zweitling vor.
Das neue Album folgt einem ähnlichen Konzept wie sein Vorgänger: Es umfasst wiederum Eigenkompositionen, Jazz-Standards sowie Bearbeitungen von Schweizer Volksliedgut aus verschiedenen Landesteilen. Aber das Zusammenspiel des Trios ist – bedingt durch seine zahlreichen Auftritte seither – noch dichter geworden, die drei Musiker können noch spontaner und ideenreicher interagieren. Deshalb haben sie auch Lust verspürt, ihre erprobte Setlist, die im Wesentlichen auf dem ersten Album beruhte, nochmals substanziell zu erweitern.
«Das Trio war ursprünglich Daniel Humairs Idee», erzählt Samuel Blaser, der Jüngste im Bunde und als Melodieführer sowie Organisator gleichzeitig so etwas wie der Leader - wenngleich Humair, der Maler am Schlagzeug, und Känzig, der Poet am Bass, weit mehr sind als blosse Begleiter. «Ich war zu Daniels 80. Geburtstag in Lyon eingeladen», so Blaser weiter. «Es gab viel Musik, Michel Portal war da, Stefano di Battista, Bruno Chevillon, wer noch alles, wir haben gejammt, und Daniel sagte, lass uns doch zusammen mit Heiri als Trio weitermachen. Er kannte den Bassisten schon gut, während ich ihn zwar stets bewundert, aber noch nie mit ihm gespielt hatte.»
Offensichtlich war Humair auf Anhieb klar, was für ein Talent er in Samuel Blaser vor sich hatte. Der gebürtige Genfer, der 1958 nach Paris übersiedelte, auf über 200 Alben mitwirkte und mit der Weltelite von Chet Baker bis Phil Woods, von Lee Konitz bis Art Farmer, von Dave Liebman bis Richard Galliano zusammengearbeitet hat, verfügte freilich über eine immense Erfahrung in der Einschätzung von Musikern; und sollte er noch Zweifel gehegt haben, so wurden diese vom Gitarristen Marc Ducret, der sowohl mit Blaser als auch mit Humair schon oft gespielt hatte, ausgeräumt.
Es ist freilich auch nicht schwierig, Samuel Blaser zu lieben: Er ist zugleich ein kompromissloser Künstler und ein höchst umgänglicher Mensch – keine häufige Mischung! Nach insgesamt fast zwanzig Wanderjahren in Paris, New York und Berlin lebt er seit einiger Zeit wieder in seiner Geburtsstadt La Chaux-de-Fonds, wo er aufwuchs und während elf Jahren Jacques Henri als Lehrer hatte. Henri machte den Schüler auch auf die beiden Meister seines Instruments aufmerksam, die in seinen frühen Jahren prägend für ihn waren: J. J. Johnson und Albert Mangelsdorff. Später wurde auch Glenn Ferris wichtig für ihn, vor allem wegen seines samtenen Tons. «Einmal», sagt er, «habe ich Glenn gefragt: ‘Wie schaffst du es, soviel Luft in deinem Klang zu haben?’, und er antwortete: ‘Ich habe nicht Luft in meinem Klang, ich habe Klang in meiner Luft!’»
Samuel Blaser spielt ein Instrument, das der bekannte Posaunenbauer Winfried Rapp in Schwieberdingen bei Stuttgart für ihn gefertigt hat. Auf ihm übt er täglich. «Die Posaune ist gnadenlos», sagt er. «Man merkt es sofort, wenn ein Musiker nicht täglich übt. Am Ansatz, an der Flexibilität, der Koordination von Zunge und Lippen, an den Armbewegungen. Und man will ja nicht nur das Niveau halten, sondern immer wieder ein bisschen weiterkommen.»
Als Solist überzeugt Blaser mit seiner ausgefeilten Technik. Von Albert Mangelsdorff hat er die Voicings übernommen; auch das Double-Tonguing und Doodle-Tonguing beherrscht er. Gern benutzt er eine Mischform aus diesen Zungenschlägen, um dem Klang mehr Druck zu geben. Doch Virtuosität ist für ihn kein Selbstzweck. Vielmehr dient sie ihm dazu, genau das auszudrücken, was ihm gestalterisch vorschwebt.
Wie seine bisherigen Einspielungen beweisen, ist Blaser ein überaus vielseitiger Musiker. Besonders mit dem Gitarristen Marc Ducret hat er anspruchsvollen Kammerjazz gespielt: im Duo ebenso wie im Trio (mit Peter Bruun am Schlagzeug) und im Quartett (mit Bänz Oester am Bass und Gerald Cleaver am Schlagzeug). Zu seiner Diskografie zählen die «Folk Songs» von Luciano Berio für Mezzosopran und kleines Ensemble ebenso wie das groovende, Reggae-inspirierte Album «Routes» (2023), das er mit einer achtköpfigen Band sowie sieben weiteren Gästen realisiert hat.
Die dreizehn auf «Our Way» versammelten Stücke haben es in sich. Ein ganzes Album nur mit Bass und Schlagzeug zu bestreiten, ohne das Sicherheitsnetz eines Harmonieinstruments, ist für einen Posaunisten eine noch anspruchsvollere Aufgabe als für einen Saxofonisten. «Die luftige Textur erfordert eine enorme Präsenz, gibt mir aber auch mehr Freiheit», sagt Samuel Blaser. «Das hat mich herausgefordert und inspiriert. Und auf meine beiden Mitmusiker konnte ich mich absolut verlassen; sie geben der Musik nicht nur ein solides Fundament, sondern spielen auch immer wieder die Ideen zurück und bringen eigene Einfälle ein.»
Das Engagement und die Spielfreude sind in jedem Takt zu spüren. Eintönigkeit kann schon aufgrund der Vielfalt des Materials nicht aufkommen: Gelungene Eigenkompositionen (etwa «Heiri’s Idea» mit seiner herrlichen Ostinato-Figur im Bass oder der witzige «Root Beer Rag») – stehen neben den beiden Thelonious-Monk-Klassikern «Jackie-Ing» und «Bemsha Swing», die Humair vorgeschlagen hat; eine Tessiner Mazurka und die anrührende rätoromanische Weise «Chara Lingua della Mamma» stehen neben Duke Ellingtons «Creole Love Call» und dem unverwüstlichen «Tiger Rag». Die Stücke werden aber nicht etwa bloss herbeizitiert, sondern auf originelle Weise verwandelt, weiterentwickelt, bisweilen auch verfremdet, ja sogar dekonstruiert.
Zu Daniel Humair hat Ueli Bernays, langjähriger Jazzjournalist bei der NZZ, einmal den Satz notiert: «Wäre Buddha Schlagzeuger, er spielte wie Daniel Humair»; über Heiri Känzig hat Peter Rüedi, der Nestor der Schweizer Jazzkritik, geschrieben, er sei unter den auffällig vielen guten Schweizer Kontrabassisten der auffälligste und überwinde mit seinem sperrigen Instrument die Schwerkraft. Auch Samuel Blasers Spiel auf der von Natur her eher schwerfälligen Posaune hat bei aller Kernigkeit, Farbigkeit und Sinnlichkeit etwas Schwebendes. So nimmt uns das Trio auf seinem fliegenden Teppich mit auf eine Reise ins Unbekannte. (Manfred Papst, September 2023)
https://www.samuelblaser.com/helveticus