Meine Eltern stammen vom Volk der Kasachen aus Ost-Turkistan, der autonomen Republik Uygur (chinesisch Sinkjang). Meine Heimat ist zwischen dem Altaygebirge und der mongolischen Grenze im Gebiet der heutigen Volksrepublik China.
Die Kasachen sind Nomaden. Sie beschäftigen sich hauptsächlich mit Landwirtschaft, Jagd und Viehzucht. Zu Beginn der 40erJahre flüchteten meine Eltern zusammen mit mehreren tausend Personen aus Angst vor Zwangsaussiedlungen aus der Stadt Barkol. Nach einer sechsmonatigen, anstrengenden Reise durch Tibet erreichte die Gruppe schließlich Indien. Einige Jahre später zog die Gruppe nach Pakistan und weiter nach Istanbul. 1953 bekamen die Flüchtenden die türkische Staatsbürgerschaft. Ich wurde 1961 in Istanbul geboren.
Für uns Kasachen sind Musik und Lieder ein grundlegendes Lebenselement, das auf natürliche Weise von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die poetischen Gesänge halten die Gesellschaft zusammen. Sie sind Balsam fürs Herz. Das Wort Balsam ist in diesem Zusammenhang nicht nur übertragen zu verstehen. Die Schamanen brauchen auch heute noch Töne und Klänge, im physische und psychische Krankheiten zu heilen. Bei uns Kasachen ist es für alle Kinder üblich zu reiten, aber auch zu dichten und zu singen. Wir brauchen Gedicht und Lied als synonyme Begriffe. Diese enge Beziehung macht es verständlich, dass in unseren Augen die Musik viel mehr als ein Konsumprodukt ist: die Musik ist nicht nur ein Element der Tradition und ein Mittel, die Zusammengehörigkeit zu zeigen, sondern sie widerspiegelt die Seele und besingt die Liebe.
In der Türkei leben die Kasachen sippenartig zusammen. So sind Tradition und Überlieferung bis heute lebendig geblieben. Gemeinsam feiern wir Hochzeiten, Verlobungsfeste und Geburtstage. An diesen Anlässen wird vor allem miteinander gesungen: klassische Stücke, Volkslieder oder aktuelle Schlager, die uns das moderne Leben mitgibt. Der vielfältige Gesang gibt uns das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die Vielfältigkeit des Gesangs widerspiegelt die verschiedenen Wurzeln des Lebens unseres Volkes. Meine Lieder kommen aus dem Gebiet von Zentralasien bis Anatolien, mit Einflüssen aus den persischen und arabischen Nachbarländern. Die Lieder sind ein Mosaik und wir ihre Beschützer.
Seit 1981 lebe ich in der Schweiz. Ich gab verschiedene Solo-Konzerte, sang mit Jazzformationen und begleitete Theater- und Tanzprojekte. Singen ist mein Lebensinhalt, ein Schrei tief aus meinem Herzen. (Saadet Türköz)