Do 17. März 2005
20:00

Charles Gayle & Reggie Workman & Andrew Cyrille (USA)

Charles Gayle: altosaxophone, piano
Reggie Workman: bass
Andrew Cyrille: drums

Von Clowns wissen wir, wie schmal die Linie ist, die das Lachen vom Weinen trennt. Und dass hinter der bunten Maske der Imagination die Realität nicht verschwindet. Flucht ist zwecklos. So wie bei Charles Gayle. Fast 20 Jahre hat er auf New Yorks Straßen in sein Saxofon geblasen, in U-Bahn-Schächten wartenden Passanten seine Idee von Free Jazz entgegengeschleudert - und wenn es gut lief, schmissen sie ihm dafür einen Dollar zurück. Bis sich Ende der 80er Jahre der graue Alltag purpurn färbt, die Knitting Factory im Vorüberlaufen auf Gayles autistisch-kompromisslose Saxofon-Attacken stößt und ihn unter Vertrag nimmt. 1988, mit fast 50, erscheint seine Debütplatte, Rockquerdenker und Noise-Aktivisten wie Henry Rollins und Thurston Moore von Sonic Youth erklären ihn zum Vorbild - und ganz plötzlich ist Charles Gayle, der Gossenmusiker, der Außenseiter, ein Star der New Yorker Avantgarde. Reich ist er dennoch nicht geworden, seine Musik sei, sagte er einmal, „not the rich man’s music“. Aber immerhin hat er jetzt ein Dach über dem Kopf und darf in Clubs spielen. Doch der Straße kann oder will Gayle nicht entkommen. Für seine Auftritte hat er eine Figur erfunden, die er „Streets the Clown“ nennt. Mit zerfetztem Jackett, zerlumpter Hose, schäbigem Filzhut und Clownsnase steht er bei einem seiner raren Gastspiele auf der Bühne. Manchmal hört er auf zu spielen und improvisiert pantomimisch. Einmal reisst er sich ein übergroßes, rotes Stoffherz aus der Brust. Auch das könnte symbolisch sein. Der Straßenclown ist keine kokette Maske, mit der Gayle die Dramatik seiner eigenen Biografie inszeniert. Eher ist sie ein Stück Vergangenheitsbewältigung. Er sei gewohnt, so zu spielen, er fühle sich wohler. Es sei eine Notwendigkeit, nicht bloß Entertainment. Und das Herz reisst er sich auch musikalisch aus, vor allem am Saxofon, seinem eigentlichen Instrument. Nicht immer mit der Unbedingtheit und gewaltigen Radikalität, die Charles Gayle zu einer der furiosesten Stimmen des Free Jazz machten. Sein Spiel ist melodischer geworden, er sucht die große Emotion hinter der reinen Energie, ohne dass seine Phrasen auch nur eine Spur nachlassen oder an Intensität verlieren. Wenn er sich dann in seinen besten Momenten vom Publikum wegdreht, ganz dicht an die Wand tritt und mit den Steinen des Gewölbekellers spricht, wenn er dazu murmelt und stöhnt, kann man ahnen, wie die Töne in seinem Kopf herumrasen, wie voll Charles Gayle mit Musik ist. Es muss raus. Und selbst wenn ihm irgendwann niemand mehr zuhören wollte, würde Gayle weiter und weiter spielen. Zur Not eben wieder auf der Straße. Ein Klavier könnte er dahin nicht mitnehmen. Vermissen würde er es. (...) Musikalisch wird das Weiche und Sanfte, die Sehnsucht nach Größe und Gefühl dort noch spürbarer, auch wenn das Vokabular eingeschliffener wirkt, die Gesten epigonaler. Alte Standards fließen ein, einmal drängt sich Summertime in den Vordergrund, ganz zart und fragil, ohne eine Spur von Ironie. Aber dann verdichten sich die Akkorde wieder, bis die Finger, die Hände nicht mehr ausreichen und er mit den Ellbogen und Unterarmen die Tasten niederdrückt. Darüber singt er mit brüchiger Stimme von Hass und Armut. Und Charles Gayle, der Clown, weiß, wovon er singt. Die Straße ist immer dabei. (Tim Gorbauch, über ein Konzert im Gewölbekeller des Jazzinstituts in Darmstadt)
Im P&B hören Sie Gayle als Altisten (!), Pianisten und Sänger, begleitet von zwei Legenden des amerikanischen Free Jazz. Energetische Fragilität! CH