Free Jazz-Deutung im Jetztzeit-Modus
Drei umtriebige Drahtzieher der New Yorker Jazz-Avantgarde haben sich zusammengetan um einer Neuauslegung einer über zwanzig Jahre alten Komposition von Dave Douglas nachzugehen. Diese heißt „Sanctuary“, inspiriert von den Möglichkeiten der Architektur, und wird nun zu „New Sanctuary“ umgemodelt. Zwölf Skizzen hat Douglas angefertigt, jedes einen Notenzeile lang, die als eine Art vorgegebenes Passepartout für die, von den Anregungen ausgehend, frei assoziativen Improvisationen fungieren. Ein anfänglich sprödes, bizarr verästeltes Klangumfeld reifte in einem engverzahnten Ideenaustausch zu herzhafter Ereignishaftigkeit, prall angereichert mit vitaler Motorik bzw. energischer, ausdifferenzierter Expression. Als gedanklichen, stimmungsmäßigen Aufruf gaben sich die drei MusikerInnen das Referenzieren über das Free Jazz-Idiom aus. Diesen Impetus formulierten sie mit eingehendem Wissen und einem geneigten Zuspruch zu jener Spielhaltung und ihrer Ästhetik aus. Transformiert durch die Erkenntnisse, die ihnen dadurch eröffnet wurden, aber eben auch vernetzt mit der Klangkultur der Gegenwart. Beeindruckende Souveränität bestimmte das Spiel mit den Momentimaginationen und der einhergehenden unmittelbaren Formgebung. Aber auch das originäre Profil jeder einzelnen Stimme festigte den Tiefgang der Musik. Douglas näherte sich unter anderem in würdiger Form dem strahlend schnoddrigen Ton und der elementaren Melodiebildung Don Cherrys an. Diese Charakteristika ließ er geschmackssicher in sein jazzhistorisch umfassendes, eigengeprägtes Spiel einfließen. Verdichtet in kurze, erhitzte Sketches, verpackt in brillante weitgespannte Tonketten, die durch modale Skalen oder unorthodoxe Changes rasten bzw. punktuell gesetzt in Klangfarbenaktionismus. Unter dem Motto „While my guitar heavy howls“ gab Ribot sein multiples Können zum Besten. Gelassen schüttete er abstrakte Geräuschballungen aus, filetierte Songstrukturen, schleuderte bluesgetränkte Hooklines und krachende Rocksequenzen in den Raum. Ibarra umspielte diese Äußerungen in der ihr eigenen zumeist „taktlosen“ Subtilität. Sie entwarf entweder quirlige Klangfarbenornamente oder setzte einzelne Soundtupfer. Zusammengefasst in losen polymetrischen Vernetzungen wie auch präzisen Zeitwerten. Der Ereignishorizont des Trios fußte auf einem unverrückbaren Kollektivgedanken, der spontane Korrespondenz auf ungemein hohem Level und eine individuelle Gruppensoundidentität volltönend ausleuchtete. Gut, dass das andere Amerika, das die drei KünstlerInnen repräsentieren, worauf Douglas nachdrücklich verwies und das Ribot mit einem „Trump Nein Danke“-Button unterstrich, lautstark gegen Konservativismus und reaktionäre Gesinnung anspielt. Ein grandioses Klangkompendium als Plädoyer für Offenheit, Respekt und Humanismus. The cry of my people. (Hannes Schweiger)
High-Energy-Improvisation trifft auf instrumentalen Einfallsreichtum. New Sanctuary versammelt drei der wandlungsfähigsten New Yorker Künstler auf dem Gebiet der improvisierten Musik. Präsentiert wird eine neue Komposition von Douglas, es wird mit neuen Sounds und Herangehensweisen experimentiert. So energetisch wie lyrisch, stellt New Sanctuary einen neuen Ansatz in der Gruppenimprovisation dar. (Pressetext)
Eine Serie von zwölf kurzen Kompositionen, jede trägt einen italienischen Monatsnamen: Die Stücke von New Sanctuary wurden 2016 veröffentlicht, eines pro Monat. Sanctuary, eine Zwei-CD-Komposition in langer Form für improvisierende Musiker, die ich 1996 geschrieben habe, führte zu einem Oktett in einer Serie von 16 Stücken, wobei verschiedene Improvisationsanweisungen vorgeschlagen wurden. Inspiration für den Aufbau von Sanctuary war die Geschichte der Konstruktionsarbeiten am Florentiner Dom von Filippo Brunelleschi. Das Werk wahrt den Bezug zu Italien in Entwurf und Konzeption. New Sanctuary stellt eine neue Herangehensweise an das Problem des Schreibens für improvisierende Musiker dar. Jedes Stück ist genau eine Notenzeile lang – anders ausgedrückt: die ganze Suite passt in zwölf Zeilen. Dadurch werden die Ausführenden gezwungen, alles aus den implizierten Ideen herauszuholen, indem sie ihr eigenes, persönliches Vokabular benutzen, um die Musik jedes Mal neu zu entwickeln und zu erforschen. Jede Aufführung lädt den Künstler dazu ein, weiter zu gehen; jede führt zu einem neuen Ergebnis.
Marc Ribot ist ein Gitarrist, dessen Weg ich schon lange verfolge. Ob mit Tom Waits, Don Byron oder John Zorn, die Art, wie er sich ausdrückt, schöpft immer aus dem Vollen und fasziniert. Vor einigen Jahren habe ich Marc eingeladen, auf dem Album „Freak In“ zu spielen. Es ist schön, bei New Sanctuary wieder mit ihm zu arbeiten.
Susie Ibarra ist ähnlich talentiert, wenn es um Ausdruck und Farbe geht. Susie hat an „El Trilogy“ mitgearbeitet, einer Suite, die ich für die Trisha Brown Dance Company geschrieben habe. Neben dem Schlagzeug verwendet Susie auch das philippinische Kulintang – sie setzt diese mikrotonal gestimmten Buckelgongs hier äußerst effektvoll ein.
Die Session bot mir auch die Chance, eine Vielzahl von Dämpf-Effekten und „erweiterten Techniken“ auf der Trompete einzusetzen. Zum ersten Mal bei Aufnahmen verwendete ich Alufolie auf dem Schallstück – zu hören auf dem ersten Track. Ribot hat auch seine Trompete mitgebracht und ist damit (neben seiner Gitarre) fallweise zu hören. Und Susie Ibarra gibt übrigens ebenfalls eine vielversprechende Trompeterin ab, obwohl sie bei dieser Aufnahme nicht gespielt hat. (Dave Douglas)