Karl Ratzer: guitar, vocals
Ed Neumeister: trombone
Johannes Enders: tenor saxophone
Peter Herbert: bass
Howard Curtis: drums
Marvelous landscapes of human experience and emotion rendered through the magnification of our tears. (Rose-Lynn Fisher)
Wenn es nicht zumindest manchmal auch tatsächlich zutreffen würde, dann wäre der Vergleich mit dem Alter und der Qualität des Weines (also je älter desto besser) wohl schon etwas redundant, aber im Falle von Sir Karl Ratzer stimmt er jedenfalls. Was jetzt natürlich nicht im Umkehrschluss bedeutet, dass das, was er als junger Mensch gemacht hat, schlechter wäre, sondern höchsten anders bzw. vielleicht sollte man „besser“ durch „souveräner, abgeklärter, klarer, beseelter“ oder ähnliches ersetzen. Dieser Reifeprozess erstreckt sich (meiner persönlichen Einschätzung und Beobachtung nach) über vier Abschnitte: Zuerst sein Aufkommen als knapp 14 Jähriger in der Underground-Band „The Slaves“, die auch international für Furore sorgte, vor allem auch deswegen, weil diese Band vom damaligen Manager der Rolling Stones (wir schreiben das Jahr 1965) unter Vertrag genommen wurde, nachdem Mick Jagger, Keith Richards & Co nach einem Stadthallen-Konzert The Slaves im damals sogenannten „San Remo Club“ (heute wohl besser bekannt als „Camera“) hörten. Bevor die Band wirklich durchstartete, wurde sie schon wieder aufgelöst. Angeblich schlummern immer noch Bänder in einem Londoner Aufnahmestudio, die nie veröffentlicht wurden, obwohl eigentlich für die erste LP gemacht. Es folgten Bands wie „Charles Ryders Corporation“, die Rockband „C-Department“ und schließlich „Gipsy Love“ mit Kurt Hauenstein und Peter Wolf, eine Band, die bis heute Kultstatus genießt.
1972 ging Ratzer nach Amerika, was den 2. Abschnitt einläutete. Nach der Zusammenarbeit mit der Band „Rufus“, die später mit Chaka Khan weltberühmt wurde, gründete er in New York eine Band mit Jeremy Steig, Eddie Gomez, Dan Wall, Ray Mantilla und Joe Chambers (mit den letzten drei arbeitete er auch später immer wieder zusammen) und sorgte dafür, dass Gitarristen wie John Scofield oder John Abercrombie bis heute in höchsten Tönen von Ratzers instrumentalen und harmonischen Fähigkeiten schwärmten. Mit Chet Baker absolvierte er von 1979 bis 85 Duo-Konzerte in den USA und Europa und wirkte an der Aufnahme „Live in Paris“ (1981) von Baker mit. Anfang der 1980er Jahre kehrt Ratzer den USA den Rücken und kam nach Wien zurück, wo er sich u.a. als Jazzclub-Betreiber verdient gemacht hat. Camarillo hieß das Lokal und wenn ich das Wort „verdient“ bediene, dann ist das natürlich nicht ökonomisch gemeint. Das Lokal musste kaum eröffnet nach relativ kurzer Zeit aus wirtschaftlichen Gründen auch schon wieder schließen. Zwei Konzerte blieben mir als damals junger Student in der Bundeshauptstadt in seinem Club in Erinnerung - ein fantastischer Auftritt von David Murray mit seinem Oktett und die Big Band (!) von Henry Threadgill. Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, dass derartige Engagements zwar musikalisch Sinn machen, aber finanziell in einem Desaster enden.
Ratzer unterrichtete danach (3. Abschnitt) an der Kunstuniversität Graz (KUG) und am Vienna Music Institute (VMI) und setzte sich vorbildlich für seine Studenten ein, für die er ziemlich selbstlos auch immer wieder Gigs organisierte. Daneben brachte er einige bemerkenswerte Einspielungen heraus wie „Waltz for Ann“ mit Art Farmer (1991), „Coasting“ mit Chaka Khan (1995) oder „Saturn Returning“ mit Dan Wall (2002).
Die durchaus verdiente internationale Anerkennung blieb ihm allerdings (vorerst) verwehrt, auch aufgrund seines (vorsichtig formuliert leicht ausufernden) Lebensstils. Wobei natürlich anzumerken ist, dass Ratzer immer hingebungsvoll der Musik diente (und dies bis heute tut), aber aufgrund seiner exzentrischen und oft unberechenbaren Art, die ihn einerseits musikalisch auszeichnet, aber andererseits auch dazu geführt hat, dass es nicht allzu viele Veranstalter gibt, die ihn ein zweites Mal gebucht hätten, manövrierte er sich - sportlich gesprochen - etwas ins Abseits. Nicht auf Dauer freilich und zum Glück für ihn und uns!
Befreit von unterschiedlichen Zwängen und Verlockungen (oder seinen Dämonen, wie seine Frau Anna das bezeichnet), die ihm sein Leben nicht gerade erleichtert haben, will er es als mittlerweile Mitsechziger nochmals wissen. Begonnen hat dieser vierte Karriereteil mit der Einspielung von „You’ ve changed“ mit Peter Tuscher (2011), einer wunderbaren Aufnahme von Standards im Quintett mit der Sängerin Alexandra Schrenk. Interessant auch die Titelwahl dieser CD, die auf ein unerschütterliches Selbstbewusstsein des Gitarristen deutet: Nicht er (Ratzer) hat sich geändert, sondern „You“, also die anderen, was irgendwie auch stimmt, aber deswegen natürlich auch noch nicht ganz richtig ist. Drei Jahre später veröffentlichte er die Aufnahme „Underground System“ mit jenen Musikern, die ihn die nächsten Jahre begleiten sollten – die da wären: Der Posaunist Ed Neumeister, der Saxophonist Johannes Enders, der Bassist Peter Herbert und natürlich Howard Curtis am Schlagzeug. Dieses Septett manifestiert den „neuen“ Ratzer, der sich aber schlussendlich mit „My Time“ (2016) tatsächlich sprichwörtlich neu erfindet, im Trio mit den bewährten Bassisten und Schlagzeuger. „Ratzer spielt Jazz, als wären’s Wienerlieder“ titelt Samir H. Köck in der Presse eine Rezension dieser Balladen-CD und formuliert als Schlusssatz: „Von den Hiesigen kann nur er amerikanische Stile wie Blues und Jazz so erklingen lassen, als wären sie in der Brigittenau entstanden. Grandios.“ Dies kann ich nur unterschreiben!
Und nun folgt der nächste Streich: „Tears“ nennt sich das aktuelle Opus des Meisters und Freudentränen könnten einem beim Hören in die Augen schießen. Eröffnet wird mit „Dujii“, einem Tune von Kool & The Gang und cool und elegant arbeiten sich die Kollegen durch dieses Stück, umsichtig und souverän arrangiert von Ed Neumeister, der für alle Arrangements auf dieser CD verantwortlich zeichnet. „(Goodbye you) Tears“ ist ein autobiographisches Stück von Karl Ratzer, das er schrieb, als er im Begriff war, sich von seinen „dämonischen“ Wegbegleiter endgültig zu verabschieden. Diese Stück hat auch eine außermusikalische Magie: Auf der Rückfahrt von den Aufnahmen beriet die Band über die Namensgebung der CD, wobei relativ rasch klar war, das „Tears“ wohl der stimmigste und logischste Titel war. Zuhause angekommen erhielt Ed Neumeister ein Mail mit der Ankündigung einer Buchneuerscheinung der Autorin & Photographin Rose-Lynn Fisher mit dem Titel „The Topography of Tears“ mit wunderbaren Photoarbeiten zu diesem Thema. Dies festigte den Entschluss einerseits und gab dem Innen-Cover mit drei Arbeiten andererseits auch gleich einen passenden Inhalt. Dem großen Sänger, Pianisten und Komponisten Ray Charles wird viel Platz eingeräumt, mit insgesamt vier Kompositionen („I Got A Woman“, „Hallelujah I Love Her So“ und die später erwähnten), die Ratzer schon lange „verfolgen“. Und „Time“, einer meiner persönlichen „all-time-favorites“ wurde neu aufgenommen – im Sextett-Format mit tollem Bläsersatz und der unsterblichen Text-Zeile „Don’t tell me I’m late, cause it’s my time“. Nach den Charles’ Tune „Mary Ann“ und „Get on the right Track“ folgt „Tyrone” von Larry Young mit einem grandiosen Muted-Bone-Solo von Neumeister und einem wunderbar relaxten von Sir Karl. „Signation“ ist ein weiteres Ratzer Stück und eine Kennmelodie, die er vor knapp einem Jahrzehnt für seine Funk-Band geschrieben hat. Zu hören ist noch „Oakland Stroke“ von „Tower of Power“ im gewohnt lässigen Neumeister-Arrangement und ganz zum Schluss gibt’s noch ein wirkliches Juwel: Hoagy Carmichael’s Skylark, berühmt geworden u.a. durch eine großartige Version des Jim Hall/Paul Desmond Quartett, diesmal als Solo-Fassung vom Meister himself. Chapeau!
Lassen Sie mich noch etwas zu den Sidemen sagen, die in dieser Band keineswegs als Rhythmusknechte und reine Bläserbegleitung fungieren, sondern vielmehr als eingeschworene Bande daherkommen, die es dem Chef erst ermöglicht, auf diesem Level zu agieren. Ed Neumeister war viele Jahre in der Duke Ellington Big Band tätig, unterrichtete jahrelang an der Kunstuniversität in Graz, arbeitete viel mit dem unvergessenen Fritz Pauer und gründete das NeuHat Ensemble in New York und das ENJO (Ed Neumeister Jazz Orchestra) in New York und Los Angeles.
Johannes Enders pflegt das musikalische Understatement und ist gerade deswegen einer der interessantesten deutschen Tenorsaxophonisten der letzten Jahrzehnte. Hierzuorts war er mit unzähligen Formationen sowohl als Leader (z.B. Enders Room) als auch als Sideman (Tied & Tickled Trio) oder im egalitären Duo mit Günter Baby Sommer zu hören.
Der seit 2003 in Paris und Wien (zuvor 16 Jahre in New York) lebende Vorarlberger Kontrabassist/Komponist Peter Herbert hat mit ca. 100 Konzerten und 100.000 Meilen Flugwegstrecke pro Jahr ein sehr „bewegtes“ künstlerisches Leben. Der Hans Koller-Preisträger 2001 (Musiker des Jahres) spielte als gefragter Sideman u.a. mit dem Marc Copland/John Abercrombie Quartett, Bobby Previte's The Horse, John Clarke Octet, mit Robin Eubanks oder mit Marcel Khalife. Herbert ist auch ein vielseitiger Komponist mit Arbeiten für verschiedene Orchester und Kammermusikensembles. (z.B. Oper „Trans-Maghreb“, Bregenzer Festspiele 2014). 1999 etablierte er sein eigenes Internet Plattenlabel „Aziza Music“. Seit 2007 unterrichtet Peter Herbert am JIM der Anton Bruckner Privatuni in Linz.
Und schließlich der Perkussionsmagier Howard Curtis III aus Williamburg, Virginia, USA, momentan in Graz lebend und dort zur großen Freude seiner Schüler an der KUG unterrichtend, spielte im Laufe seiner knapp drei Jahrzehnte währenden Karriere mit dem who’s who der aktuellen und teilwiese natürlich auch historischen Jazzszene, wie Dave Liebman, Gary Thomas, Julius Hemphill, George Coleman, Clark Terry, George Coleman, Frank Foster, Oliver Lake, Billy Harper, Eddie Harris, Joe Chambers, Cyrus Chestnut, Christian McBride, Greg Osby,Mark Feldman, Erik Friedlander, Jon Hendricks, Andrew White, Eartha Kitt, Sheila Jordan, Jon Faddis, Randy Brecker, David „Fathead“ Newman, Joe Locke, Barry Harris, Marc Johnson, John Abercrombie, Jimmy Heath, Odean Pope oder Lionel Hampton, just to name a few – Wahnsinn!
Diese Musiker sind also für diese wunderbare Einspielung verantwortlich – ein Meisterwerk in vielen Belangen, vielleicht sogar ein Opus magnum des Gitarristen (und wenn nicht, dann liegt die Latte sehr hoch!). Jedenfalls eine Platte, die Karl Ratzer in Höchstform zeigt, mit einer Band, die dem Frontmann auf Augen- (naja, eigentlich Ohren-) Höhe begegnet, eine Einspielung, die restlos zu überzeugen weiss und wenn ich in Bezug auf Ratzer einmal geschrieben habe, „the best is yet to come“, dann habe ich offenbar diese Einspielung vorhergeahnt. Das zu toppen wird kein leichtes Spiel sein! In diesem Sinne: Hallelujah!
Christoph Huber, Linernotes CD "Tears"