Sa 30. Juni 2018
20:30

Charles Lloyd & The Marvels (USA)

Charles Lloyd: tenor saxophone, flute
Greg Leisz: pedal steel guitar
Bill Frisell: guitar
Reuben Rogers: bass
Eric Harland: drums

Der große US-amerikanische Saxofonist gastierte mit neuem Album in Wien und schwärmte von mysteriösen Noten, die er gefunden hat

"Man kann kein Haus auf einer Brücke bauen. Ich erinnere mich und andere, dass wir nur Durchreisende sind." 55 Jahre ist es her, dass Saxofonist Charles Lloyd seine Komposition "Passin' Thru" auf dem gleichnamigen Album von Drummer Chico Hamilton veröffentlichte und rasch zu einem Jazz-Superstar der Sixties avancierte. Nun fungiert es als Titelstück seines jüngsten Live-Albums unter eigenem Namen, einer vor Vitalität strotzenden Quersumme eines Großmeisters, dem man seine 79 Lebensjahre weder ansieht noch anhört.

"Diese Songs sind meine Kinder, und sie sagen Hallo, wenn sie es wollen. Wenn ich sie heute spiele, ist es nicht die gleiche Version, keine Fotografie." Kraftvolle Neufassungen, aber auch neues Material auf dem bei Blue Note erschienenen Live-Album belegen dies ebenso wie vor kurzem ein fulminanter Auftritt im Wiener Porgy & Bess. Im Interview spricht Lloyd, wie er auf der Bühne spielt. Er holt weit aus, mäandert um sein Thema, und dann, wenn man glaubt, er habe sich verirrt, ist er unvermutet am Ziel. Alles fügt sich perfekt zusammen. Zu erzählen gibt es genug. Von den Lehrjahren in der Musikszene von Memphis etwa, wo Lloyd mit Blues-Größen wie B. B. King und Howlin' Wolf zusammenspielte. Oder von den Tagen im New Yorker Greenwich Village, wo er Nachbar der Free-Jazzer Ornette Coleman und Eric Dolphy und von Folk-Innovator Bob Dylan war. Oder vom Ausstieg aus der Musikszene 1969 am Höhepunkt seines Ruhmes. Erst Ende der 80er Jahre kehrte Lloyd, angstachelt von ECM-Labelboss Manfred Eicher, in die Jazz-Szene zurück. Als er 2001 wieder einmal drauf und dran war, seine Karriere an den Nagel zu hängen, war es Drummer Billy Higgins, der ihm knapp vor seinem Tod ins Gewissen redete: "Das beeindruckte mich derart, dass ich mich neu ausrichtete, wieder ganz der Musik widmete." Seine Musik sieht Lloyd, Anhänger der hinduistischen Vedanta-Philosophie, als Gegengewicht zum "ganzen politischen Bullshit". Trump und Co, "diese ganzen Witzfiguren beleidigen die Intelligenz des Planeten". Den größten Raum räumt Lloyd im Gespräch nicht prominenten Namen, sondern weniger bekannten Weggefährten ein. Etwa dem ebenfalls aus Memphis stammenden, 23-jährig verstorbenen Trompeter Booker Little, der als sein Schutzengel fungierte und "Dissonanzen schön machen konnte". Oder Pianist Phineas Newborn Jr., "unserem J. S. Bach". Heute ist es Lloyd, der junge Begleiter fördert und anfeuert. Statt Jason Moran, der auf "Passin' Thru" zu hören ist, glänzte in Wien Pianist Gerald Clayton. Lloyds Gespür für Tastengenies ist seit der Verpflichtung des jungen Keith Jarrett für sein erstes Quartett legendär. Ebenso wie sein Sinn für fließende Dynamikwechsel und eine Palette an Klangfarben am Saxofon, die ihresgleichen sucht. Sanft und stark ist bei Lloyd kein Widerspruch, eher Grundprinzip. Lloyd scheint sich vollkommen frei durch seine Musik zu bewegen: "Ich mag es, wie sich die Töne um sich selbst drehen." Das Timbre, das Lloyd seinen Tönen mitgibt, überrascht immer wieder aufs Neue. Man glaubt es ihm, wenn er sagt: "Ich habe zwei neue Töne auf dem Saxofon gefunden, die es eigentlich gar nicht geben sollte, mystery notes." Mit einem kongenialen Partner für solche Erkundungen war Lloyd übrigens auf seinem bisher letzten Studioprojekt, dem von Americana-Klängen geprägten Album "I Long to See You", zu hören: Gitarrist Bill Frisell. "Wir arbeiten gerade im Studio an einem neuen Album", stellt Lloyd weitere gemeinsame Unternehmungen in Aussicht. Für die vokalen Qualitäten, die sein Saxofonspiel mehr als alles andere auszeichnen, hat Lloyd übrigens eine einfache Erklärung: "Ich wollte eigentlich Sänger werden. Jetzt singe ich auf dem Saxofon." (Karl Gedlicka, 31.7.2017)