Magnetischer Ton
„Jump Off“ - der erste Track auf diesem Album ist 16 Sekunden lang. Man meint zu wissen, was nach diesem Intro kommt: noch mehr erweiterte Spieltechniken, wilde Klangerkundungen, auswuchernde Formen – das ganze Programm der zeitgenössischen freien Improvisation. Und dann das: Groove im 4/4-Takt, tanzbar mit eingängiger Bass Line und einer ins Ohr gehenden, einfachen Trompetenmelodie. Ist das dieselbe Jaimie Branch, die zuvor ihr Instrument als Noise Machine ins Spiel gebracht hat?
Krasser Stilmix
Der krasse Stilmix aus geräuschigen, freien Improvisationen, Indie-Rock, Free Jazz, choralartiger Brass-Musik und Hip Hop Beats ist so frappierend, wie er glaubhaft klingt – ganz offensichtlich ist Jaimie Branch eine Künstlerin mit einer extrem vielschichtigen Persönlichkeit und – starkem Eigensinn. Im Chicagoer Jazzumfeld war sie schon länger eine gefragte Kollaborationspartnerin – unter anderem für Szenegrößen wie Ken Vandermark, Fred-Lomberg Holm oder auch Matana Roberts. Dass die Trompeterin darüber hinaus bisher kaum bekannt war, hat sicher viele Gründe – das Frausein im Männergeschäft Jazz kann nach wie vor eine Karrierebremse sein. Außerdem gibt es die ungeschriebenen Szenegesetze, die es Nonkonformistinnen und vielseitig Interessierten wie Branch zusätzlich schwer machen. Und – mittlerweile spricht sie offen darüber – Branch hat eine existentielle Krise inklusive Heroinabhängigkeit hinter sich. Dass sich ihre musikalische Entwicklung so lange fast abseits einer größeren Öffentlichkeit abgespielt hat, erweist sich bei ihrem Debüt als Bandleaderin aber vielleicht sogar als ein Vorteil: Denn die Mittdreißigerin präsentiert sich hier eben nicht als Debütantin, sondern als eine gereifte Musikerinnenpersönlichkeit. Jetzt oder nie, habe sie sich in der Vorbereitung zu dieser Produktion gesagt, Branch in einem Interview. Das Album heißt folgerichtig: „Fly or Die“. Es geht um alles.
Feines Gespür für Spieldramaturgie, Dynamik und Klanggestaltung
Branch ist eine exzellente Trompeterin, mit beinahe magnetischem Ton; nicht nur technisch höchst versiert und flexibel, sondern vor allem auch mit einem feinen Gespür für Spieldramaturgie, Dynamik und Klanggestaltung. Die Albumfassung von „Fly or Die“ ist eigentlich erst im Studio entstanden – zusammengesetzt aus einem Livemitschnitt ihres Quartetts und zusätzlichen Aufnahmen mit Gastmusikern. Auch der Einsatz von Effektgeräten, das Herstellen von Loops und Overdubs, spielten in der Postproduktion hörbar eine Rolle. Entstanden ist eine gut halbstündige Suite – mit drei groovigen Themen-Tracks im Zentrum, verkettet durch atmosphärische, freiere Stücke, in denen sie ihren Mitmusikern große Gestaltungsfreiheiten einräumt und sich selbst als ideenreiche Improvisatorin zeigt.
Anwärter auf Jazz-Album des Jahres 2017
Auf dem Cover von „Fly or Die“ blicken übrigens Tauben mit zu Hörnern mutierten Augen von Dächern auf die Schluchten einer Großstadt hinunter. Den Vinyltonträger schmückt sogar ein ordentlicher Spritzer Vogelkot. Sie sei schon immer irgendwie anders gewesen, sagt Jaimie Branch. Aber nirgendwo fühle sie sich mit diesem Anderssein so zuhause wie im Jazz. Genau dieses Gefühl des selbstverständlich Seltsamen vermittelt sich auch auf ihrer Debüt-CD – für mich schon jetzt ein Anwärter auf das Jazzalbum des Jahres 2017. (www.swr.de)