Am 26. September 1993 öffnete das Porgy & Bess in der ehemaligen Fledermaus-Bar in der Spiegelgasse mit einem dreitägigen Gastspiel von Sir Karl Ratzer seine Pforten. Ursprünglich von Mathias Rüegg als "Jazzherbst" konzipiert, entwickelte sich das P&B im Laufe der Jahrzehnte zu einem der international führenden Jazzclubs. Aus gegebenen Anlass leisten wir uns eine wahre europäische Jazzlegende, der mit Django Reinhardt (hören Sie sich auf https://youtu.be/FUiqWLO2twY die letzte und wirklich erstaunliche Aufnahme von Django mit Solal an!) aber auch mit dem großen Hans Koller (u.a. die LP "ZoKoSo" – 5 Stars-Rating im amerikanischen Downbeat) gearbeitet hat, mit einem seiner raren Solo-Auftritte. Bienvenue! CH
Der Pierre Boulez des französischen Jazz. Ein intellektueller Grandseigneur ist 90: Martial Solal.
Am 23. August 2017 feierte mit Martial Solal ein Großer des europäischen Jazz seinen 90. Geburtstag. Der in Algiers geborene französische Pianist spielte Anfang der 1950er-Jahre in Paris noch mit Sinti-Gitarrist Django Reinhardt, um in der Folge gänzliche andere Wege einzuschlagen. Mit virtuoser Technik und Sinn für komplexe harmonische Reibungen ausgestattet, machte sich Solal, der auch als Filmmusik-Komponist hervor trat (u. a. für Jean-Luc Godards Langfilm-Debüt "Außer Atem", 1960), einen Namen als Forschergeist an den Tasten, der Improvisation tatsächlich als Kunst des kreativen Moments begreift: Das zeigte sich in seiner Arbeit mit Altsaxofonist Lee Konitz, im Trio mit Hans Koller und Attila Zoller (LP "Zo-Ko-So", 1965), aber auch in Duoaufnahmen mit Trompeter Dave Douglas und Soloeinspielungen, die Martial Solal nach der Jahrtausendwende vorgelegt hat. (Andreas Felber, Spielräume 07.09.2017)
Raffinierter Jazz vom Altmeister
Martial Solal gilt als einer der besten Jazzpianisten der Welt. Spieltechnische Beherrschung paart sich bei ihm mit einem beeindruckenden Ideenreichtum. Wer ihn auf der Bühne einmal live erlebt hat, wird diesen Konzerteindruck niemals vergessen, denn Martial Solal inszeniert seine Auftritte in fulminanter Weise. Auch seine neue Live-CD mit Modernjazz vermittelt diese überraschenden und bewegten Klangbilder in Improvisationen von Jazzklassikern.
Das Theater Gütersloh ist ein futuristischer Neubau mitten im Herzen der Stadt. Als dort im vergangenen November Martial Solal die Bühne betrat, war die Spannung schier mit den Händen zu packen. Ein Neunzigjähriger am großen Konzertflügel. Was würde er noch spielen können, wie den langen Abend gestalten? Martial Solal ließ sich nicht zweimal bitten. Zuerst streute er ein paar Akkorde aus, dann perlte sein leichtes und pointiertes Spiel wie eh und je.
Der 1927 im damals noch französischen Algier geborene Solal kletterte schon als Dreikäsehoch auf den Klavierhocker. Seine Mutter war eine bekannte Opernsängerin. Dass der Jazz-Virus ihren Sohn infizierte, konnte sie nicht verhindern. Bei seinem Auftritt in Gütersloh erzählte der 90jährige dem Publikum gutgelaunt, wie das geschah. Er habe eine Tanzband populäre Songs spielen gehört, aber die Musiker fügten einige falsche Töne hinzu.
Martial Solal: "Sie spielten einfach mehr Noten als die Melodie eigentlich brauchte. Das fand ich doch sehr interessant. Ich wusste nicht, dass das Jazz ist, aber ich wusste, so etwas ist eigentlich verboten. Aber gerade das Verbotene war natürlich sehr reizvoll."
Im Konzert in Gütersloh präsentierte Martial Solal einen bunten Strauß an fremden und eigenen Stücken, ganz so, als wolle er seine lange Karriere noch einmal Revue passieren lassen.
Im Jahr 1950 war er als junger Mann nach Paris gekommen und erhielt ein Engagement als Hauspianist im berühmten Jazz-Club Saint-Germain. Solal konnte von Woche zu Woche Größen wie Chet Baker, Stan Getz oder Kenny Clarke begleiten. Er wurde jedoch kein Imitator amerikanischer Vorbilder, sondern entwickelte einen ganz eigenen Stil. Seine Stücke haben Esprit und sind stets mit großem Raffinement geschrieben.
Anfang der 1960er Jahre wurde der Film auf den galanten Jazz-Kopf aufmerksam. So lieferte Solal etwa den Soundtrack für Jean-Luc Godards Meisterwerk „Außer Atem“. Den Free-Jazz dieser Zeit kritisierte der Franzose mit markigen Worten. Er hielt ihn, verkürzt gesagt, für sinnfreies Geklimper. Die Werke von Solal hingegen müssen keinen Vergleich mit der klassischen Musik scheuen.
Beim Gütersloher Auftritt war der Altmeister in fulminanter Spiel- wie Redelaune. Vom Publikum auf seine Sicht der heutigen Jazz-Szene angesprochen, hielt der 90jährige mit seiner Meinung nicht lange hinter dem Berg. So beklagte er etwa, dass es mittlerweile viel zu viele Jazz-Musiker gäbe.
Martial Solal: "Das ist gut für die Musik, aber nicht gut für die Künstler. Nur die allerbesten haben dadurch heute noch eine Chance, überhaupt gehört zu werden. Die allermeisten müssen vom Unterrichten leben. Dabei bilden sie fast zwangsläufig immer mehr Musiker aus. Das ist ein wahrer Teufelskreis."
Welche Qualitäten man als Jazz-Musiker haben muss, um über Jahrzehnte eine internationale Karriere zu absolvieren, führte Martial Solal dem staunenden Publikum nonchalant vor. Der Altmeister ist noch immer ein hellwacher Geist, der aus jedem Thema ein kleines Überraschungspaket schnürt. (Georg Waßmuth, www.swr.de)
Weltstars wie Oscar Peterson und Duke Ellington bewunderten ihn. Und das nicht von ungefähr: Der Franzose Martial Solal ist einer der besten Jazzpianisten der Welt - seit rund 70 Jahren - sowie ein vorzüglicher Big-Band-Chef und herausragender Komponist, zum Beispiel von Filmmusiken. Er gilt als der bedeutendste französische Jazzmusiker nach der Jahrhundertfigur Django Reinhardt. Solal wird am 23. August (Anm.: 2017) 90 Jahre alt.
Wer ihn einmal solo am Klavier erlebt hat, wird vermutlich über Jahre hinaus nicht mehr vergessen, wie sehr man über Musik staunen kann. Denn Martial Solal "spielt" Stücke nicht nur, er inszeniert sie, verwandelt sie in bewegte Bilder aus Klängen. Ein Klassiker wie "Over the rainbow", der schöne Song aus dem Film "The Wizard of Oz" ("Das verzauberte Land"), wird bei Solal zu einer Rhapsodie ungeahnter Möglichkeiten. Die Melodie: Man kennt sie, aber nicht so. Immer wieder erscheint sie verwandelt, wie in neuen musikalischen Gewändern. Die Rhythmen ändern sich ständig, plötzliche Pausen brechen eine Phrase jäh ab und führen sie nach einer Schrecksekunde ganz logisch fort. Und immer wieder schillern unerwartete Harmonien durch. Es ist, als würden die Stimmen sich selbstständig machen: sich lösen vom Instrument, einander umschwirren und umflattern wie klanggewordene Vögel in der Luft.
Sein Spiel wirkt mühelos, doch es ist erarbeitet. Die Klarheit der Stimmführung, das ungemein sichere Gespür für dynamische Nuancen, der Sinn fürs funkelnde Herausarbeiten von Pointen: Das alles erlebt man bei Martial Solal auf allerhöchstem Niveau. Solch eine spieltechnische Beherrschung ist auch in der Weltklasse des Jazz nicht selbstverständlich. Solal äußerte sich zur Frage der Spieltechnik einmal wie folgt: "Das, was man sagen möchte, kann man nur mit einer guten Technik aussagen. Wenn du freilich Sklave deiner Technik bist, kannst du keine gute Musik machen." Nach dieser Maxime musiziert er auch. Er verfügt über die Technik, nicht sie über ihn. Sie ist Mittel zum Zweck für ein Spiel von stets überraschendem Ideenreichtum.
Inspiriert wurde der Franzose dazu nicht zuletzt von Vorbildern wie dem Klavier-Überflieger des frühen Jazz, Art Tatum. Dieser Amerikaner nahm von den 1930er Jahren an Stücke auf, die wie ein Wirbelwind durch die Gehörgänge fegten. Aber auch der dichte moderne Klavierstil von Bud Powell, einem der großen Initiatoren des modernen Jazz, der 1959 nach Paris zog, hat Solal geprägt. Sowie, viel früher schon, der Klangwitz von Fats Waller. Seit Jahrzehnten hat der französische Virtuose wiederum selbst Schule gemacht. Nicht zuletzt wurde sein Name zum Signalwort und Gütesiegel eines berühmten Wettbewerbs für junge Pianisten: des 1989 gegründeten "Concours Martial Solal", den der Pianist auch selbst leitete (bis 2010 zuletzt alle vier Jahre).
Martial Solal wurde am 23. August 1927 in Algier als Sohn französischer Eltern geboren. Seine Mutter war Opernsängerin und führte ihn früh zur Musik. Er wurde in jungen Jahren vertraut gemacht mit der Klaviermusik von Bach bis Debussy, außerdem lernte er Klarinette und Saxophon. Nachdem 1940 das französische Vichy-Regime die Rassenpolitik der Nazis auch in den französischen Territorien Afrikas anwandte, musste Martial Solal als Sohn eines jüdischen Vaters die Schule verlassen. Musikalisch brachte ihn ein Privatlehrer weiter. Dem Musikjournalisten John Fordham erzählte Solal 2010 für den britischen "Guardian" über diese Zeit Folgendes: "Mein Lehrer in Algier war ein Nachbar meiner Tante: ein großer, dicker, beeindruckender Kerl, der Klavier, Saxophon, Schlagzeug, Akkordeon, Klarinette, Trompete, also einfach alles spielte. Als ich ihn Jazz spielen höre, haut mich das um: Ich werde sein Schüler, dann schließe ich mich seiner Band fünf Jahre lang an, um darin Klavier zu spielen und Klarinette im Stil von Benny Goodman. Es war nur Tanzmusik - Tango, Walzer, ein bisschen Jazz. Und es war 1941 oder 1942, also wussten wir nichts von Charlie Parker und der Moderne. Aber es genügte."
Bereits 1945 wurde Martial Solal professioneller Musiker. Und bereits während der Kriegsjahre hatte er in Marokko, wo er seinen Militärdienst ableistete, für amerikanische Soldaten Jazz gespielt. 1950 zog er nach Paris - in einem Vorort der französischen Hauptstadt lebt er noch heute. Er fand Arbeit bei Orchestern und machte diverse Aufnahmen mit unterschiedlichen französischen Musikern - 1953 etwa auch mit Gitarrist Django Reinhardt, an der Seite von Bassist Pierre Michelot, der ebenfalls ein bedeutender französischer Jazzer der Nachkriegsgeneration werden sollte. Bald gründete Solal ein Trio mit Schlagzeuger Daniel Humair und Bassist Guy Pedersen, spielte in einem Quartett mit dem Trompeter Roger Guérin - und machte sich allmählich einen großen Namen in Frankreich. Im Club Saint Germain im 6. Arrondissement von Paris sowie an anderen einschlägigen Jazz-Spielorten begleitete er große amerikanische Solisten wie Chet Baker und Stan Getz und den in Frankreich lebenden Sidney Bechet. 1963 wurde Solal dann zum Newport Jazz Festival in den USA eingeladen, wo mit Bassist Teddy Kotick und Schlagzeuger Paul Motian eine vielbeachtete Aufnahme mit Standards wie "I got rhythm" entstand.
Damals hatte Martial Solal es in der Hand, auch im Mutterland des Jazz, in den USA, Karriere zu machen. Er hatte aber bereits Familie und blieb in Frankreich. In den USA war er selten präsent. In einem Interview für das Magazin "France - Amérique" sagte er 2008: "Ich fing 1963 an, in den USA zu spielen, und bin nur ungefähr zwanzig Mal wieder gekommen. Um eine große Karriere in einem Land zu machen, muss man dort sein und oft spielen. Ich bin aber nicht gerade ein Fan von Flugzeugen und habe daher mehrere Konzerte in den Vereinigten Staaten abgesagt."
Von Frankreich aus hat Martial Solal eine vielfältige und prägnante Karriere gemacht - nicht zuletzt mit Filmmusik. Bereits 1960 erschien Jean-Luc Godards epochemachendes Kino-Opus "A bout de souffle" (Außer Atem) - mit Musik von Martial Solal. Und noch viele Jahre später, nämlich im Jahr 1999, zeichnete der Pianist für die Musik von Bertrand Bliers Film "Les Acteurs" verantwortlich. Als Komponist hat er sich auch im klassischen Bereich einen Namen gemacht: Er schrieb eine Reihe von Kammermusikstücken, aber auch ein Klavierkonzert, diverse Klavier-Etüden - und Solostücke etwa für Fagott oder Cembalo. Fast wie mit dem Klavier geht Solal auch mit großen Jazz-Besetzungen um: Seine Dodeca-Band ist weltweit renommiert. Mit ihr interpretierte Solal unter anderem Stücke von Duke Ellington in ganz eigener Tönung. Auch in seinen Arrangements für die Big-Band-Besetzung lässt Martial die Stimmen voller Witz funkeln, geht oft weit weg von den Themen, die immer wieder spukhaft aufflackern, eingebunden in ein komplexes musikalisches Geschehen, das viel auch von klassischer Musik des 20. Jahrhunderts - etwa Kompositionen von Strawinsky und Bartók - beeinflusst ist. Er wolle zeigen, dass ein Arrangeur eigentlich auch ein Komponist ist, sagte Solal einmal über seine Big-Band-Bearbeitungen von Klassikern.
Als Pianist hat Solal mit vielen weltberühmten Kollegen gespielt - mit Toots Thielemans, mit Lee Konitz und John Scofield, mit Attila Zoller und Hans Koller - und nicht zuletzt mit Django Reinhardts Weggefährte Stéphane Grappelli. Seine Kabinettstücke hat er aber als Solo-Pianist veröffentlicht - auf Alben wie "Nothing But Piano" und "The Solosolal". Spielerischen Witz haben nicht nur seine Töne, sondern auch die Titel seiner Platten und Kompositionen. "Solalitude" nannte er eines seiner Stücke: eine Zusammenziehung des Namens Solal mit dem französischen Wort für Einsamkeit, "Solitude". Ein Musiker mit viel Hintersinn: In seinen Stücken und seinem Klavierspiel steckt stets ein bisschen mehr, als man aufs erste ahnt. Um seine Musik treffend zu beschreiben, verwendet man am besten ein französisches Wort: Esprit. Dieses Wort gibt auch im Deutschen - als Synonym für Geist, Scharfsinn, Schlagfertigkeit, Witz. Das alles haben die Töne von Martial Solal - und sind zugleich getragen von einer fesselnd unmittelbaren Musikalität. Ein Jazz-Großmeister - und so langlebig wie er selbst sind auch die Klänge, die Martial Solal in die Welt gesetzt hat. (Roland Spiegel, BR-Klassik 21.08.2017)
Einer der ganz großen europäischen Klavierspieler im Jazz ist Martial Solal. Der Franzose hat im Laufe seines langen Lebens, er konnte im letzten Jahr seinen 90. Geburtstag begehen, in allen nur erdenklichen Besetzungen gespielt. Kein geringerer als Duke Ellington lobte ihn anlässlich seines US-Debüts 1963 in Newport für „Einfühlungsvermögen, Fantasie und eine erstaunliche Technik“. Trotzdem ist sein Markenzeichen bis heute ein feines, sympathisches Understatement, das er in seiner Karriere, trotz hoher Spielkultur, nie ganz abgelegt hat. Um so erfreulicher, dass ihm eine Folge der Reihe „Europen Jazz Legens“ des Jazzlabels Intuition gewidmet ist. „My One And Only Love“ wurde im November des letzten Jahres in Gütersloh aufgenommen. Über siebzig Minuten Martial Solal pur enthält das Album. Es ist eine Reise durch die Geschichte des Jazz geworden, angereichert mit wunderbar interpretierten Standards, mit einer Komposition von Solal selbst, einer Interpretation des 3. Satzes der Sonate Nr. 11 A-Dur KV 331 von Wolfgang Amadeus Mozart, auch als „Türkischen Marsch“ bekannt, und dem Kanon-Klassiker alter Kinderstube „Frére Jacques“, hier „Sir Jack“ genannt. Der aus Algier stammende Pianist weiß um die Kunst des Weglassens, um die Jazz-Weisheit des selbstbewussten Andeutens. Diese Souveränität paart er mit der verschachtelten Intelligenz eines Schachspielers. Er weiß mit „Hacken und Ösen“ umzugehen, sie pianistisch zu platzieren, er weiß, wie man improvisatorische Geradlinigkeit abkürzt, oder am Instrument Funken schlägt. Für ihn ist es alles andere als ein Problem, aus Kindermelodien groteske Irrfahrten werden zu lassen. Das Klavier ist seine angestammte Heimat, sein Jungbrunnen, in den er auf „My One And Only Love“ fintenreich eintaucht, um sich und sein Publikum zu beglücken. (Jörg Konrad)