Idan Raichel: „Peres hat mein Herz erwärmt“
Idan Raichel vertonte ein Gedicht des verstorbenen Staatspräsidenten Israels – und wirbt für Frieden.
Ohne Zweifel schwebt Idan Raichel ein anderes Israel vor als dem derzeitigen Regierungchef, Benjamin Netanjahu. Seine Vision einer friedlichen Koexistenz, die er in vielen seiner Musikstücke entwirft, ist viel näher an den toleranten Vorstellungen der israelischen Gründergeneration, deren großer politischer Repräsentant Schimon Peres vergangenen September gestorben ist. Raichel, der sich in der Vergangenheit für nach Israel eingewanderte äthiopische Juden starkgemacht hat, wurde deshalb auch von Peres kontaktiert. Der Politiker hat ein Gedicht über deren oft schweres Schicksal verfasst, Raichel hat es vertont.
Folklore erweitern. Das Ergebnis war der Song „The Eyes of Beta Israel“. „Es hat mein Herz sehr erwärmt, als mich Herr Peres, unser ehemaliger Präsident und der wohl legendärste Diplomat Israels, deshalb kontaktiert hat. Es war mir eine große Ehre, seine Worte zu vertonen.“ Raichel will das Gemeinsame vor das Trennende stellen. Furchtlos träumt er von Grenzenlosigkeit, die so mancher mit dem Adjektiv „naiv“ heruntermacht. Mit großer Lust am gedanklichen und emotionalen Abenteuer erweitert er den folkloristischen Kern seiner Songs durch reichliche Gaben aus Afrika, Lateinamerika und der Elektronik. Für sein aktuelles Album, „At the Edge of the Beginning“, arbeitete er mit Musikern und Vokalisten unterschiedlichster kultureller Prägung. Nach welchen Kriterien wählt er eigentlich aus? Raichel lehnt sich zurück. Bei seiner Antwort hängen auch einige Familienmitglieder an seinen Lippen. Der 39-Jährige gibt Interviews gern im Kreis von Vertrauten: „Das Casting ist der wichtigste Teil meiner Arbeit mit dem Projekt. In meiner Karriere habe ich sicher mit mehr als 150 Musikern aus aller Welt gearbeitet. Manchmal schicken sie mir ihre Arbeiten, manchmal entdecke ich sie, von Zeit zu Zeit hilft der Zufall.“ Den malischen Gitarristen Vieux Farka Touré sprach er auf einem Flughafen an. Der kolumbianischen Sängerin Marta Gómez begegnete er in einem Proberaum in New York. „Es gibt keine Regeln. Manche sind jung, andere erfahren, manche berühmt, andere unbekannt.“ Zu Vieux Farka Touré, dem Sohn des afrikanischen Bluesmeisters Ali Farka Touré, hat Raichel eine innige Beziehung.
Auf Touren lernen. „Ich war schon früh ein Fan seiner Musik. Dann traf ich ihn zufällig auf dem Flughafen in Berlin und sprach ihn an. Schon zu Beginn meiner Laufbahn träumte ich davon, als Keyboarder in seiner Band zu spielen. Bald darauf absolvierte ich eine Spanien-Tour mit ihm und hatte so Gelegenheit, sehr viel zu lernen. Überhaupt habe ich auf Tourneen, so auch als Keyboarder von Sänger Ivri Lider, viel mehr gelernt als auf Schulen und Universitäten. Nach unserer Spanien-Tournee lud ich Vieux nach Israel ein. Schnell entwickelte sich eine Freundschaft zwischen uns“, sagt Raichel. Unter dem Signet The Touré-Raichel Collective entstand 2012 die eindringliche Songkollektion „The Tel Aviv Session“, bei der israelische Melodien und malische Rhythmen verwoben wurden.
Zwei Jahre später kam das nicht minder reizvolle Nachfolgeprojekt „The Paris Session“ heraus. Die Vibes der Wüste trafen auf die warmen Echos einer Trompete und Raichels verträumtes Klavierspiel. „Wenn Musik universell ist, wie so oft gesagt wird, dann muss man das auch beweisen“, sagt Touré. Raichel ergänzt: „Man kann von dieser Musik nicht sagen, sie wäre israelisch oder malisch. Unser Sound hat ein ganz eigenes Eiland kreiert.“ In eine gänzlich andere Topografie führte Raichels Zusammenarbeit mit dem deutschen Countertenor Andreas Scholl. „Unsere Zusammenarbeit hat die deutsche Sprache erstmals in den israelischen Mainstream gebracht. Auf das bin ich besonders stolz.“ Und es geht weiter. Auch mit amerikanischen R&B-Künstlerinnen entstanden schönste Kombinationen. Mit India Arie konzertierte Raichel bei den Festlichkeiten einer Friedensnobelpreisverleihung, mit Alicia Keys bei einem Open Air im Central Park in New York. Dort traf er auf den palästinensischen Musiker Ali Amri. „Er lebt vielleicht vier, fünf Minuten von meinem Haus in Israel entfernt. Aber weil die Grenze zu Ramallah geschlossen ist, brauchte es New York, um gemeinsam musizieren zu können.“ Und dann hat Raichel auch noch das Apollo-Theater in Harlem, legendäre Spielstätte des Jazz und Soul, erobert. 2007 hat er es zweimal ausverkauft. „Ich hätte nie zu träumen gewagt, dort einmal aufreten zu können.“ Auch vor Präsident Obama hat Raichel im Weißen Haus musiziert: am Martin Luther King Day. Israelische Künstler, fordert er, sollen eine aktive Rolle in den Public Relations des Staates übernehmen. „Wir müssen die anderen Seiten von Israel zeigen, abseits der negativen Schlagzeilen. Gewalt ist leider ein Bestandteil unseres Lebens, aber es gibt auch sehr viel Schönheit in Israel. Ich will kultureller Botschafter meines Landes sein, so wie es Édith Piaf für Frankreich und Mercedes Sosa für Argentinien waren. Jedes Lied ist ein Baustein für eine Brücke.“ (Samir H. Köck, 2017)