Carlos Cipa (D)
»Retronyms« ist das dritte Album des Münchener Komponisten Carlos Cipa. Nachdem auf den 2012 und 2014 erschienenen LPs »The Monarch and the Viceroy« und »All Your Life You Walk« das Piano im Zentrum von Cipas Schaffen stand, erweitert er auf »Retronyms« seinen künstlerischen Ansatz ebenso wie sein musikalisches Farbspektrum um ein Vielfaches. Auf acht Stücken bringt Cipa seinen Hintergrund als klassisch ausgebildeter Pianist und Komponist ein, lässt aber genauso sein Interesse für Pop, Jazz und elektronische Musik in all ihren Facetten durchscheinen. Jeder Ton auf diesem Album ist genau durchdacht und doch brilliert »Retronyms« durch eindringliche Lebendigkeit.
Für die Aufnahmen von »Retronyms« brachte der Komponist MusikerInnen mit unterschiedlichen Backgrounds zusammen, ließ modernste digitale Studiotechnik auf analoge Hardware treffen, verschmolz Holz- und Blechbläserklänge oder E-Gitarren- mit Piano-Sounds. Cipa selbst ist am Klavier sowie einer Reihe von Tasteninstrumenten wie der Celesta und dem Harmonium, an analogen Synthesizern und Keyboards wie Wurlitzer oder Fender Rhodes zu hören. Die Ursprünglichkeit des Akustischen und die Authentizität der Live-Performances bleiben in dieser surreal-schönen akustisch-elektronischen Kammermusik erhalten. Mit Stücken wie dem epischen »senna’s joy« betont »Retronyms« auch die orchestralen Qualitäten, die in den Solo-Klavierstücken Cipas bisheriger Veröffentlichungen nur angedeutet waren.
»Retronyms« trägt seinen Titel nicht ohne Grund: Retronyme bezeichnen nachträgliche Umbenennungen und geben damit etwas Altem einen neuen Namen. Ein Beispiel wäre der Begriff »akustische Gitarre«, welcher nach der Erfindung der E-Gitarre eingeführt wurde. Retronyme entstehen immer am Ende einer aufregenden kulturellen oder technologischen Entwicklung, wie auch »Retronyms« einen entscheidenden Wendepunkt in Cipas Werdegang als Komponist markiert. Zuletzt hatte er sich im Studio gemeinsamen Arbeiten mit der Komponistin Sophia Jani oder dem Produzenten Martin Brugger alias Occupanther gewidmet und war für Film und Fernsehen tätig, schrieb freie Werke für klassische Ensembles sowie Musik für Tanz und Theater. In über hundert Konzerten in ganz Europa bewies er, dass seine Musik das Publikum von Clubs und klassischen Konzertsälen genauso in ihren Bann ziehen kann wie das großer Pop-Festivals wie Haldern Pop, MS Dockville und Reeperbahn-Festival. Dabei teilte er sich unter anderem die Bühne mit Künstlern wie Hauschka oder Nils Frahm und hauchte in der Elbphilharmonie Steve Reichs »Six Pianos« neues Leben ein.
Auf »Retronyms« hat der Komponist, der genauso leidenschaftlich über verschiedene Interpretationen von Bach-Suiten referieren kann wie über die Diskografie von Björk und der sich bei der Aufführung eines Minimal Music-Stücks ebenso wohlfühlt wie mit Bowies »Heroes« auf dem Plattenteller, dennoch einen Teil der kompositorischen Kontrolle abgegeben. Zur Hälfte handelt es sich bei dem Album um ein durchkomponiertes Werk, der Rest entstand im Studio im produktiven Miteinander und nicht selten während der Aufnahmesessions aus dem Zufall heraus. So beispielsweise das Eröffnungsstück »fanfare«, für das Cipa die Einspielübungen des Posaunisten mitschnitt und später durch verschiedenste technische Manipulationen zu avantgardistischer Klangkunst verdichtete. Auch das letzte Stück, »paon«, entstand aus einer freien Improvisation Cipas mit dem Trompeter Matthias Lindermayr. Cipa bringt akustische Tasteninstrumente, Synthesizer-Soundscapes und digitale Produktionsmethoden ebenso ins Zusammenspiel wie klassische Elemente mit Pop-Strukturen: »dark tree« eröffnet mit seinen flächigen Sounds Cipas Klavierspiel viel Raum zur Entfaltung und lässt es mit jazzigen Trompetenmelodien in einen musikalischen Dialog treten. Es entsteht ein ganz eigener Sound, der auf keiner Partitur seinen Ausdruck hätte finden können. Es gibt viele Momente auf »Retronyms«, in welchen die Dinge organisch ihren Lauf nahmen - in denen klassische MusikerInnen zur Improvisation ermutigt wurden oder ein Jazz-Musiker vom Blatt spielte. Das bedingt in diesen rund 49 Minuten eine Vielseitigkeit, in welche sich die schwebenden Streicherflächen auf »awbsmi« ebenso einfügen wie die verflochtenen Pianophrasen auf »and she was«.
Das Akustische steht auf »Retronyms« in einem gleichberechtigten Dialog mit dem Elektronischen - wie auch das Analoge mit dem Digitalen, die Improvisation mit der Kompositionskunst. Im Verlauf der acht Stücke wird im Zusammenspiel von dezenten Wiederholungen und kontrastreichen Änderungen im Klangbild eine konstante Spannung erzeugt, die bis in das kleinste Detail des vielschichtig arrangierten Albums zu hören ist. Weißes Rauschen und Umgebungsgeräusche ziehen das Publikum mitten in die lebendige Aufnahmesituation hinein und doch sitzt jeder Ton auf dieser LP genau dort, wo Cipa ihn haben will.
So baut »Retronyms«einen großen, kohärenten Bogen aus äußerst heterogenen Einzelteilen. Während das erste Stück nur 50 Sekunden dauert, breitet sich das zweite schon fast 13 Minuten lang aus. Obwohl ein Stück wie »slide.« auf einer komplexen harmonischen Struktur basiert, klingt das Ergebnis doch leichtfüßig und eingängig. Was in einem Moment eine bestimmte Stimmung zu übertragen scheint, das kann in nur wenigen Sekunden in sein Gegenteil umkippen. Denn »Retronyms« ist ein Album, das ständig in Veränderung begriffen ist. Ebenso wie Carlos Cipa, der mit »Retronyms« seinen Ansatz als Komponist radikal erweitert hat. (Pressetext)
Eine Veranstaltung von Spoon-Agency