Fri April 30, 2004
21:00

Anthony Braxton Solo (USA)

Anthony Braxton: reeds

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Dieser Musiker, schwärmte Michael Naura, bewältige das „in seinen Improvisationen, wozu sich mancher europäische Neutöner wochenlang am Schreibtisch abquälen muss.“ Steve Lacy bezeichnete ihn gar als „Weltmeister unter den Solospielern“, und Oliver Lake resignierte 1979 in einem
Blindfold-Test der Zeitschrift „Down Beat“: „Es gibt keine Superlative für ihn, die nicht schon gesagt worden wären.“
Anthony Braxton, aus der Chicago-Avantgarde hervorgegangen, gilt als besonders intellektualistischer Vertreter der dritten Free Jazz-Generation, der neben Charlie Parker, Paul Desmond und Lee Konitz auch John Cage, Karl-Heinz Stockhausen, Edgar Varèse und die zweite Wiener Schule zu seinen Haupteinflüssen zählt, in der Praxis aber eher an die freien Konzepte von Komponisten wie Vinko Globokar anzuknüpfen scheint. Seiner instrumentalen Perfektion entsprechen komplizierte, auf mathematische Beziehungen gegründete Gestaltungsprinzipien der Musik selbst: zumeist eigene serielle Konzepte innerhalb freier Tonalität. Als Titel dienen ihm dabei oft nicht Wörter, sondern Zahlen und geometrische Zeichen. Braxton, der u. a. Stücke für 100 Tubas oder für vier Orchester geschrieben hat und das Wort Jazz als „Würgegriff“ empfindet, versteht sich in erster Linie als Komponist, dann erst als Instrumentalist, und er hält an einem Werkbegriff fest, den er in improvisatorischer Hinsicht modifiziert. „Für mich bedeutet Kreativität, dem nahe zu kommen, was es mit der Kreativität essentiell eigentlich auf sich hat (…). Ich habe mich zur wissenschaftlichen Untersuchung der Musik entschlossen, um die magische Bedeutung und die umgestaltenden Möglichkeiten kreativer Techniken zu erkunden“, sagt der philosophisch interessierte, lange Zeit auch als professioneller Schachspieler erfolgreiche Musiker über sein Interesse an strukturellen Phänomenen der Improvisationskunst. Vor allem geht es ihm auch um die Erkundung klangfarblicher Möglichkeiten in
Kleinstbesetzung - möglichst solo - oder mit Hilfe ungewöhnlicher Instrumente. Braxton war denn auch der erste Jazzmusiker, der ein ganzes Doppelalbum unbegleiteter Altsaxophonsoli aufnahm, und er führte sowohl die Kontrabassklarinette als auch das Kontrabasssaxophon und das Sopranino im Jazz ein. Nachdem er lange erklärt emotionslos gespielt hatte, dabei oft rhythmische Intensität vermissen ließ und schließlich auch wegen seiner durchwegs stakkatierten Tonbildung kritisiert worden war, gewann das Spiel des Ende der siebziger Jahre mit Pollsiegen überhäuften Multi-Instrumentalisten immer mehr rhythmische Kraft, Flexibilität, Phantasie und Wärme hinzu. (Martin Kunzler)