Sun Oct. 28, 2012
20:30

Dave Liebman „Quest“ (USA)

David Liebman: soprano saxophone
Richie Beirach: piano
Ron Mc Clure: bass
Billy Hart: drums

Sorry this part has no English translation

Schatten des Titanen

Quest, das Quartett von David Liebman und Richie Beirach, war noch einmal unterwegs. Es wurde kein Altherrentreffen.

Vielleicht war der Sündenfall des Jazz, dass er partout keine sündige Musik mehr sein wollte. Vielleicht verlor er seine Unschuld, als er aus den Rotlichtzonen, illegalen Kneipen der Prohibition, wo nur auf der Bühne nicht die Gangster den Ton angaben, aufbrach, die Konzertsäle zu erobern. Vielleicht war er am unfraglichsten Kunst, als er am wenigsten danach strebte, eine zu sein. Das ist, zugegeben, eine romantische Sicht der Dinge – der Jazz als Film noir betrachtet, sozusagen. Zu dem lieferte er ja oft genug den Sound.

Schwer zu bestreiten ist, dass Jazz noch in abstrakteren Zonen jenseits der Tanzpavillons der Swingzeit, also im intellektuellen Bebop von Charlie Parker oder an den wilden Soul-Veranstaltungen von Charles Mingus, eine erotische Musik war (im Gegensatz zu den meisten kristallinen Kopfgeburten der europäischen Avantgarde). Seine treibende Qualität hatte mit Triebhaftigkeit zu tun, noch im Cool Jazz, dessen wirkliche oder scheinbare Coolness, wie im Spiel seines Urvaters Lester Young, mehr Strategie und Raffinesse der Verführung war als Abgeklärtheit.

Dann kam John Coltrane, und der trieb die Expressivität seiner Saxophonimprovisationen an einen Punkt, wo sich ein «Paradigmenwechsel» einstellte. «A Love Supreme» meinte nicht mehr Erotik, sondern «Agape» («die schenkende Liebe Gottes» laut Fremdwörter-Duden). Spiritualität wurde ein Stichwort, und nicht mehr ganz innermusikalische Qualitäten wie «das Hymnische». Nach Coltranes frühem Tod (1967) nahm die Nachfolge fast sektenartige Züge an. Kaum ein neuer Tenorist, der sich nicht als Statthalter und Sprachrohr des Erleuchteten verstanden hätte. Dabei verkamen Coltranes Manien zu Manierismen, seine zwanghaften modalen Rituale zu modischen Fingerübungen. Wenigstens meistens.

So viel Jazzgeschichte muss sein, wenn’s um Dave Liebman geht. Er war eine der Ausnahmen. Zwar musste auch er sich erst aus dem Schatten des Titanen kämpfen (was ihm schwer genug fiel), aber zweifellos war er bald mehr als ein Coltrane-Manierist. Er operierte nicht weit vom Zentrum des Kults, zum Beispiel in der Band von Coltranes Drummer Elvin Jones. Aber es ging ihm immer darum, nicht abzuheben. Mehr als die Esoterik des späten Coltrane suchte er die Intensität des mittleren. Fusionen aller Art, mit indischen Musikformen, aber eben auch mit Rock, erachtete er nicht als Verrat an der reinen Lehre. Mit seinem Jugendfreund, dem Pianisten Richie Beirach, spielte er viel im Duo, leitete dann ein Quartett, Quest, erst mit George Mraz und Al Foster an Bass und Schlagzeug, dann mit Ron McClure und Billy Hart. Der Name hielt schön die Mitte zwischen dem nüchtern Handwerklichen und dem unbestimmt Spirituellen: quest heisst ebenso Nachforschung wie Suche (nach Meister, Lebenssinn, Weltgeist). Das war das Spannungsfeld der Gruppe, die eben deshalb eine der interessantesten in der ganzen Coltrane-Nachfolge war. Sie war intensiv und experimentell, wagemutig und formbewusst, Letzteres immer gerade so weit, dass sie sich nicht selbst in Formalismen fesselte. Der Titel einer frühen Ausstellung von Harald Szeemann hätte sich als Motto angeboten: «When attitude becomes form.»

2005 war Quest nach fünfzehn Jahren wieder gemeinsam unterwegs. Oft genug werden aus solchen Wiedererweckungen müde Altherrentreffen. Aber erstens hatten Liebman und Beirach auch nach 1991 immer weiter im Duo gearbeitet, und zweitens war die Formation immer schon ein Unternehmen, dem Vorgänge wichtiger waren als Resultate (die liessen sich aufwärmen wie die Hits des Modern Jazz Quartet). Die Live-Mitschnitte aus Konzerten in Baden und in Paris, eben veröffentlicht, sind frisch bis wild, Weiterentwicklungen früherer Ansätze, «Round Midnight» ein schöner, mal rhapsodierender, mal bröckelnd destruktiver Angang an Thelonious Monks Monument, «Ogunde» am ehesten eine Wiederbeschwörung Coltranes, «WTC/Steel Prayers» ein Medley von Liebman/Beirach zum Thema 9/11. Dazu wird der slawische Heuler «Dark Eyes» vorgeführt als eine Art Etüde zum Thema Pathos, Ornettes «Lonely Woman» als innige Ballade (Liebman auf der Holzflöte), und am Ende schwenkt Billy Harts «Redemption» nochmals in die Coltrane-Thematik ein. Meint der Titel Erlösung (im spirituellen Sinn), meint er Loslösung (vom erdrückenden Übervater)? Ganz schön, und ganz schön doppelsinnig, wie die ganze CD. (Peter Rüedi, Die Weltwoche)