Ethan Iverson Trio (USA)
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Jazz-Surrealist mit Schalk im Nacken
Seit den Zeiten von The Bad Plus ist das Piano-Trio Ethan Iversons bevorzugtes Format. Für sein Blue-Note-Debüt “Every Note Is True” hat er ein neues mit Jack DeJohnette und Larry Grenadier gebildet.
Klassische Piano-Trios gibt es im modernen Jazz wie Sand am Meer. Um sich von der Masse der Konkurrenz abzuheben, muss sich ein Trio da schon etwas Besonderes einfallen lassen. So wie es zu Beginn des Millenniums Ethan Iverson, Reid Anderson und David King a.k.a. The Bad Plus taten. Nicht wenige bezeichneten die Formation, die 17 Jahre lang konstant in dieser Besetzung spielte, als das “perfekte Jazztrio für das 21. Jahrhundert” (Cincinatti CityBeat, 2016). Warum? Weil es zum einen stets die musikalischen Traditionen des Jazz ehrte, während es gleichzeitig den progressiven Geist der sich verändernden Zeit mit offenen Armen begrüßte. Das Trio spielte nicht nur Eigenkompositionen aller Bandmitglieder, sondern brachte in raffinierten Überarbeitungen von zeitgenössischen und klassischen Rock- und Pop-Hits deren verborgenes Potenzial zum Vorschein. Nun hat Pianist Ethan Iverson mit einem exzellenten neuen Trio sein erstes Album für Blue Note aufgenommen. Als Kompagnons gewann er dafür den Schlagzeuger JackDeJohnette, der über gut 30 Jahre hinweg in Keith Jarretts “Standards”-Trio glänzte, und den Bassisten Larry Grenadier, der nun schon fast ebenso lange ein integraler Bestandteil des Trios von Brad Mehldau ist. Auf “Every Note Is True”, so der Titel des Albums, können diese Musiker also eine geballte Ladung an hochkarätigen Trio-Erfahrungen einbringen.
Iverson versteht sich seit jeher als Vertreter der “Tradition des Jazz-Surrealismus” (seine eigenen Worte!) und nennt als große Vorbilder gerne Thelonious Monk und Charles Mingus. Darüber hinaus inspirierten ihn aber auch andere Klavier- und Keyboard-Größen: von Fats Waller, Bud Powell und Lennie Tristano über Keith Jarrett und Joe Zawinul bis hin zu Django Bates und Jason Moran. Auf “Every Note Is True” lässt er viele dieser Einflüsse durchschimmern. Manchmal klar und deutlich, dann eher auf subtile Weise. Als Blaupause für die Musik von “Every Note Is True” nennt Iverson allerdings das Album “Money Jungle”, das den Traditionalisten Duke Ellington 1962 bei einer ausgefallenen Studiosession mit den progressiven Musikern Charles Mingus und Max Roach zusammengeführt hatte. “Es ist großartig zu hören, wie Larry und Jack zur Sache gehen”, sagt Iverson. “Wenn du mit den beiden zusammenspielst, brauchst du nicht viel Material. Es reicht, wenn du ihnen etwas wirklich Simples vorlegst, nicht mehr als ein paar einfache Skizzen. Sie ergreifen von den Ideen Besitz und lassen sie großartig klingen. Das steht ganz in der Tradition der großen Blue-Note-Platten aus den 50er und 60er Jahren, wo die Melodien einprägsam sind, aber tatsächlich nicht allzu viel notiert war.”
Eröffnet wird das Album mit “The More It Changes”, einer launigen Chorgesang-Nummer, die wie eine augenzwinkernde Verbeugung vor Iversons britischem Kollegen und Freund Django Bates wirkt. “Ich albere gerne ein bisschen herum”, hat der Pianist einmal gesagt. Und “The More It Changes” ist dafür ein Paradebeispiel. Danach wird es musikalisch gesehen ernster, aber nie zu ernst. Das Repertoire besteht bis auf ein Stück – Jack DeJohnettes “Blue” von dem 1978 erschienenen ECM-Klassiker “Gateway 2” – ausschließlich aus Kompositionen von Iverson. Die Stücke changieren meist zwischen bluesiger und balladesker Stimmung. Einige haben das Flair von fantasievoller Filmmusik. Und gelegentlich blitzen auch Anklänge an klassische Musik auf oder sogar The Bad Plus. Obwohl Ethan Iverson immer noch der Schalk im Nacken sitzt (und manchmal in die Tasten greift), erweist er sich hier als deutlich gereifter Komponist. (jazzecho.de, 10. Februar 2022)
Ethan Iverson – Der Kritiker am Piano
Selbstkritik gehört bei Jazzmusiker/-innen irgendwie zum eigenen Anspruch. Dass ein herausragender Pianist wie Ethan Iverson aber nebenbei auch noch das Kritikerbesteck in die Hand nimmt, hat mit seiner überbordenden Neugier zu tun. Iverson will nicht nur spielen, sondern auch wissen, warum er das tut. Und dabei machte er manchmal auch vor sich selbst nicht halt.
Eigentlich sind die Rollen klar verteilt: Der eine spielt, der andere schreibt darüber. Eine nie ganz konfliktfreie Gemengelage. Nicht selten tröstet sich der Kritisierte mit der angeblich mangelnden Sachkenntnis oder der fehlenden Empathie des Kritikers. Er kann’s halt nicht …
„Ich kenne diese Situation nur zu gut“, lächelt Ethan Iverson. Jeder identifiziert den 49-Jährigen als herausragenden Pianisten, als Mitgründer des Power-Pop-Pianotrios The Bad Plus oder Kollaborateur von Größen wie Lee Konitz, Tootie Heath, Mark Turner, Paul Motian, Charlie Haden, Ron Carter, Tom Harrell, Tim Berne und Kurt Rosenwinkel. Als Komponisten natürlich ebenfalls. Aber die Randnotiz, dass sich Iverson auch einen Kritiker nennt, wird gerne überlesen.
„Ich denke, dass es wichtig ist, nicht nur Musik zu spielen, sondern auch über sie nachzudenken und zu schreiben. Es gibt eine lange Tradition von musizierenden Kritikern, die mit dem klassischen Pianisten Robert Schumann beginnt und bei Mary Lou Williams noch lange nicht endet. Mein Vorbild ist der Pianist und Musiktheoretiker Charles Rosen. Ihm ging es weniger darum, Leute in die Pfanne zu hauen, als vielmehr darum, Musik zu analysieren, sodass andere davon profitieren können. Ich schreibe nur selten Plattenkritiken und lasse mich auch nicht über das Spiel von Kollegen aus. Mir geht es vor allem darum, wie Musik entsteht.“
Deshalb arbeitet Ethan Iverson seit 2005 an seinem Blog „Do the Math“, der bereits eine Reihe von Auszeichnungen bekam und in dem er Interviews und kritische Analysen über zeitgenössischen Jazz veröffentlicht, sowie für Publikationen wie The New Yorker und The Nation. Dies helfe ihm bei seiner Lehrtätigkeit im Jazzstudiengang der New England Conservatory, erklärt der klavierspielende Jazzforscher. Natürlich müsse man dabei in verschiedene Rollen schlüpfen, sagt der Mann aus Brooklyn. Über sich selbst zu schreiben, das fiele ihm allerdings schwer. Auch nicht ausnahmsweise? Momentan böte sich nämlich mit seinem aktuellen Album „Every Note Is True“ (Blue Note/Universal) ein exzellentes Beispiel zur (Selbst-)Reflexion der multiplen Iverson’schen Schaffenspalette an. Eine Sammlung aus zehn Titeln, wie eine Reise, die quasi mit dem Ausstieg bei The Bad Plus Ende 2017 beginnt, in die Vergangenheit blickt, sein Idol Monk, den Blues und den Bebop feiert, die sich mit filmischen Motiven auseinandersetzt und auf die er seine derzeitigen Wunschpartner mitnimmt: den Bassisten Larry Grenadier und Drummer Jack DeJohnette.
„Ich liebe diesen hoch virtuosen, Old-School-Dröhnton in Larrys Spiel. Und Jack ist sowieso der Größte. Abgesehen von seiner bemerkenswerten Jazzkarriere mit Keith Jarrett, Miles Davis, Charles Lloyd und zahllosen anderen Legenden ist er auch einer der großen Rockschlagzeuger.“
Diese Sichtweise überrascht, aber Iverson meint damit keineswegs das klassische Rockgewitter vom Drumset, sondern einen ganz speziellen, modernen Groove wie bei der legendären „Money Jungle“-Session mit Duke Ellington, Charles Mingus und Max Roach. Grenadier und DeJohnette brauchen wenig Vorgaben, lediglich einfache Skizzen. Ähnlich wie bei den großen Blue-Note-Sessions der 1950er- und 1960er-Jahre, wo es vor allem um Melodien mit wenigen Noten ging.
Womit wir bei der Beurteilung des Pianisten Ethan Iverson wären. „Well …“, beginnt der Kritiker Ethan Iverson zögerlich.
„Ich glaube, dass der Typ am Klavier sehr melodisch agiert. Was im Modern Jazz schon eine Ausnahme darstellt, weil es da normalerweise weniger um Melodien geht. Und er ist kein Speeddämon, keiner, der so viele Noten wie zum Beispiel Oscar Peterson spielen möchte. Das braucht er nicht. Es erweckt den Anschein, als wüsste er, worum es bei Jazzharmonien geht und wie man gleichzeitig abstrakte Strukturen aufbaut. Das unterscheidet ihn von vielen seiner Kollegen. Zufrieden?“
Perfekt!
Und Ethan Iverson ist es wohl selbst auch. „Vier von fünf Sternen“ würde er sich geben, was aber hauptsächlich am Opener „The More It Changes“ mit einem 44-stimmigen virtuellen Coronachor liegt.
„Ich bin ein schrecklicher Sänger“, gibt Iverson zu. „Man kann mein Geträller weit oben im Mix hören. Aber ich liebe dieses unprofessionelle Singen! Ein Amateurchor oder ein Kinderchor ist ein herrlicher, fast filmischer Klang.“
Beim Rest ist aber jede Note die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. (Reinhard Köchl, Jazzthing 150, 2022)